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Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
Autoren: Sergej Minajew
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tatsächlich sind. Wenn ich Bildung sage, dann meine ich das im klassischen Sinn des Wortes, also eine breite, vielfältige Bildung. Sie mag nicht immer sehr tiefgründig sein, aber sie eröffnet demjenigen, der sie genossen hat, ein breites Spektrum für seine individuellen Begabungen und Möglichkeiten. Eine Bildung, die systematisches Denken höher stellt als systematischen Konsum. Aber wer von denen legt darauf überhaupt noch Wert?
    Anstatt die Basis, die man ihm bereitgestellt hat, zu benutzen, versucht jeder von ihnen, sich der Engstirnigkeit der Amerikaner anzupassen. Die gleichen Gesten, das gleiche Lächeln, die gleichen Umgangsformen und die gleiche bescheuerte Manier, nur noch in Werbeslogans zu sprechen. Warum machen sich intelligente Menschen Tag für Tag zu Idioten, noch dazu mit solchem Eifer?
    Ich hasse diese Typen nicht deswegen, weil sie kleine popelige Untergebene sind, sondern weil sie davon träumen,
kleine popelige Untergebene zu sein. Und wehe, Sie versuchen, ihnen diesen Traum zu nehmen!
    Die Tür geht auf, und Sascha betritt mein Büro, der Stellvertreter unseres Hausmeisters Petrowitsch. Sascha ist, genau wie Petrowitsch, ein ehemaliger Soldat. Vor etwa einem Monat habe ich Petrowitsch gebeten, in meinem Büro einen neuen Schredder aufzustellen und mir außerdem eine Schwarz-Weiß-Fotografie aufzuhängen. Ein ziemlich cooles Foto übrigens, das ein Paar super geformte Frauenbeine auf einem Roulettetisch zeigt.
    Einen ganzen Monat lang haben diese beiden Spezis nichts getan als in der Nase zu bohren und darauf gehofft, dass ich meinen Auftrag zurückziehe oder einfach vergesse. Jede Woche habe ich meine Sekretärin bei ihnen anrufen lassen. Und jetzt, auf einmal, geschieht das Wunder: Auf seinen ausgestreckten Armen, so feierlich, als trage er die Zarenkrone vor sich her, bringt Sascha tatsächlich den sagenumwobenen Schredder herein. Sein Gesicht zeigt den Ausdruck eines Mannes, der todesverachtend seine verdammte Soldatenpflicht erfüllt.
    »Warum hat das denn bloß so lange gedauert, Sascha? Ist er vielleicht auf seinen eigenen Pfoten den weiten Weg aus dem Geschäft bis zu uns gelaufen?«
    »Hä? Wer ist auf seinen Pfoten gelaufen?«
    »Der Schredder.«
    »So siehst du aus! Die Dinger sind höllisch schwer zu kriegen. Was wir alles angestellt haben, um da ranzukommen …«
    Es folgt ein umständlicher Vortrag darüber, dass es im Moskau des Jahres 2004 so gut wie unmöglich ist, einen funktionsfähigen
Schredder aufzutreiben. Als Nächstes kommt wahrscheinlich eine rührselige Geschichte von den Strapazen und Entbehrungen, die Sascha und Petrowitsch auf der abenteuerlichen Jagd nach dem Schredder durchlitten haben. Ich nicke, während Sascha sich möglichst unauffällig in Richtung Tür schiebt.
    »He, warte!«, rufe ich ihm nach. »Und was ist mit dem Foto? Ich hab das Ding extra selber gerahmt!«
    Saschas Gesicht versteinert. Er spürt ganz deutlich, dass er heute bereits mehr gearbeitet hat, als er verkraften kann.
    »Das könnte ich doch morgen …«, unternimmt er einen zaghaften Versuch zu entwischen. »Ich muss noch dringend in der Buchhaltung …«
    »Sascha! Jetzt mach aber mal einen Punkt! Das dauert fünf Minuten!«
    Sascha kommt zu meinem Tisch, hebt den Telefonhörer ab und wählt die interne Nummer von Petrowitsch. Gibt einen Lagebericht. Erhält die Genehmigung. Legt den Hörer auf und erklärt in offiziellem Ton:
    »Die Sache geht klar, wir hängen es auf! Welchen Abstand von der Fußleiste wünschen Sie?«
    Ich erstarre. Gute Frage. Was würden Sie auf so eine Frage antworten? Nach Augenmaß? Das hatte ich eigentlich vor, aber ich befürchtete, als Gegenfrage zu hören: Wie viele Zentimeter sind das?
    Deshalb sage ich ohne mit der Wimper zu zucken: »Einen Meter zweiundneunzig.«
    »Ah ja, alles klar. Ich hol dann mal den Zollstock«, sagt Sascha und verschwindet.
    Mit Gottes Gnade kommt er in einem Monat wieder vorbei.
Fast alle Hausmeister waren früher mal Lagerverwalter bei allen möglichen militärischen Versorgungseinheiten. An ihren späteren Arbeitsstellen in den Büros, das heißt in ihrer Terminologie »unter Zivilisten«, machen sie einfach genau so weiter wie vorher bei der Armee. Zum Beispiel lassen sie die Firmenwagen nicht zum Waschen bringen, wenn sie schmutzig sind, sondern dann, wenn sie nach irgendeinem ominösen Reinigungsplan an der Reihe sind: x-mal während der Wintermonate und y-mal im Herbst und im Frühling. Im Sommer sieht der Reinigungsplan
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