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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter
Autoren: Laura Whitcomb
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sich stattdessen in völliger Dunkelheit wiederfand, hätte ihm unbehaglich zumute sein sollen. Jede Todestür führte entweder zum nächsten Todesschauplatz oder zu seinem nächtlichen Gebetszimmer. Die Finsternis hätte ihm eine Warnung sein müssen, doch seine Gedanken verweilten noch immer bei der Kinderfrau. Und dann tat er etwas, das ihn hätte darauf aufmerksam machen sollen, dass er den falschen Weg einschlug.
    Er gab der jungen Frau einen Namen. Er nannte sie Glory.
    * * *
    Calder streckte tastend die Hände in der Dunkelheit aus, fühlte jedoch nur Leere. Er versuchte, seine Gedanken zu reinigen und die Bilder von Glory zu verdrängen, um an den nächsten Todesschauplatz zu gelangen. Dabei rezitierte er den zweiten Psalm der Begleiter:
    Viele Welten, doch nur ein Gott.
    Seine Macht ist die Sonne eines jeden Landes,
    Seine Vergebung ist der Mond, der über jede Nacht wacht,
    Seine Liebe sind die Sterne am Himmel.
    Dennoch wollte sich die Dunkelheit nicht lichten. Er betete um Führung und sprach die Sieben Gebote. Calder fürchtete, dass der Himmel endlich herausgefunden hatte, was er schon immer wusste – dass er eines Begleiters nicht würdig war. Ihn dafür auszuerwählen war ein Fehler gewesen. Andere Begleiter waren ruhig und weise. Sie waren mit einem Selbstbewusstsein und sicheren Auftreten gesegnet, das er nie besessen hatte.
    Calder war immer schon rastlos und allein. Er hatte ständig das Gefühl, als wäre er auf der Suche nach jemandem, als wartete er auf jemanden, als hätte er jemanden zurückgelassen oder wäre selbst verlassen worden.
    Der junge Seelenhüter fürchtete, dass man seine wahre Natur bald erkannte, und es würde ihn zutiefst beschämen, wenn der Captain herausfände, wie wenig geeignet er für diese Aufgabe war. Aber vielleicht wäre die Entdeckung ja auch eine Erleichterung. Es war eine große Last, als Einziger um seine Außenseiterrolle zu wissen. Dennoch betete Calder um den nächsten Todesschauplatz, denn ebenso wie ein Sterblicher das Unbekannte fürchtete, das mit dem Tod auf ihn zukam, so hatte er panische Angst vor der Frage, welcher Platz im Himmel wohl einem verbannten Begleiter zustand.
    Kurz darauf vernahm er sanften Wellenschlag und betrat dankbar den neuen Todesschauplatz, einen nächtlichen Strand, an dem ein junger Mann an ihm vorbeirannte und sich die Seite hielt. Seine Kleidung schien elisabethanisch zu sein – ein Kostüm vielleicht: abgetragene Strumpfhosen, keine Schuhe, das Hemd halb geöffnet und blutig, die Weste baumelnd am Arm. Vielleicht war es nur sein Gewand, doch Calder fühlte eine starke Verbundenheit mit ihm, als ob der Fremde ihn in einem Stück über sein Leben als Mensch gespielt haben könnte. Der Begleiter war bei seinem Tod etwa so alt gewesen wie der junge Mann jetzt, und dessen Kleidung war ihm sehr vertraut. Die dicke Theaterschminke hätte ein Musiker jedoch niemals getragen. Der Mann war gewiss ein Schauspieler, auch wenn die Wunde echt war.
    Calder folgte ihm über den Strand, horchte auf die angestrengten Atemzüge und beobachtete, wie er erst stolperte und dann hinfiel. Der junge Mann kroch auf allen vieren weiter, als ob er von einem unsichtbaren Angreifer verfolgt würde. Weder der Mond noch Sterne erhellten seinen Weg, nur ein schwaches Licht, das von einem Dorf auf einem Hügel direkt über ihnen herabstrahlte, sowie das zarte Schimmern, wenn eine Welle an den Strand rollte. Schließlich brach der Schauspieler zusammen, blieb auf der Seite liegen und krümmte sich. Langsam breitete sich eine dunkle Pfütze unter seinem Bauch aus.
    Statt mit göttlicher Ruhe an der Seite des Mannes zu stehen, dachte Calder an Glory. Wenn sie als Kindermädchen arbeitete, dann war sie sicher nicht verheiratet. Unterdessen wand sich der Schauspieler zu seinen Füßen in Krämpfen. Geisterwind und Erdenwind wehten über den Strand und den sterbenden Mann hinweg. Calder kniete sich neben den Schwerverletzten und wartete auf die finale Entscheidung. Doch selbst jetzt widmete er seine Aufmerksamkeit nicht voll und ganz der anstehenden Aufgabe.
    Er wünschte, Gott hätte Glory als besonderen Begleiter, als Lehrling aus den Reihen der Lebenden auserwählt. Ein selten Ding, doch wunderschön. Ein besonderer Begleiter war ein Sterblicher, der an einem Todesschauplatz anwesend war und den Seelenhüter sowohl sehen als auch hören konnte. Es waren stets Seelen mit herausragendem Einfühlungsvermögen. Calder hatte bisher nur wenige getroffen, doch alle
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