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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter
Autoren: Laura Whitcomb
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Herrschaften umgeben, spielte Calder auf einer reichverzierten Trommel und sang so betörend, dass alle Gespräche um ihn herum verstummten. Zu seinen Füßen lag ein Pelzmantel, vielleicht ein Geschenk seines edlen Gönners. Welche Lieder er sang, war ebenso in weite Ferne gerückt wie der Name seines Wohltäters – all das berührte ihn nicht länger.
    Manchmal versuchte er dennoch, die Erinnerung an eine Melodie oder eine Gedichtzeile aus seinem irdischen Leben zu fassen zu bekommen, etwa wenn er die Passage entlangschritt und den Rhythmus der Musik im Theater oder beim Festmahl derjenigen Seele hörte, die er gerade begleitete. Kaum mehr als eine Note, die unvermittelt über ihm schwebte, eine schlichte Zeile von unerwiderter Liebe. Die Erinnerung flammte kurz auf und war schon wieder verblasst, ehe er sie bewahren konnte. In solchen Momenten fragte sich Calder, ob sich unter dem perfekten Bild seines menschlichen Lebens nicht doch noch ein anderes Gemälde verbarg, dessen dunklere und vergessene Umrisse nur darauf warteten, an die Oberfläche zurückzukehren.
    Der Seelenhüter versuchte, sich sämtliche Frauen ins Gedächtnis zu rufen, die er auf Erden gekannt hatte, aber er konnte sich weder an etwaige Schwestern noch an seine Mutter erinnern. Er malte sich aus, wie die Frauen ausgesehen haben mochten, die seinem Gesang lauschten. Anmutige Ladys in Satin und Perlen, die ihm bewundernd zunickten. Doch keines der weiblichen Gesichter, die er heraufbeschwören konnte, löste in ihm dasselbe Gefühl von Freude aus wie die Frau in Weiß.
    Calder bewegte sich nicht, um sie nicht zu stören, auch wenn die meisten Sterblichen nicht in der Lage waren, ihn zu hören oder zu sehen. Sie musste das Kindermädchen oder die Erzieherin des Säuglings sein, denn sie trug ein einfaches Baumwollkleid, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen aufgerollt waren. Damit bildete sie einen starken Kontrast zu dem prächtig ausgestatteten Raum mit den Brokatvorhängen, gepolsterten Stühlen und der Messingkrippe, die mit spitzenverzierten Kissen ausgekleidet war. Auch wenn das Kind nur ihr Schützling war, sie liebte es offensichtlich über alles.
    Wie gebannt betrachtete er ihre zarten Finger, mit denen sie den Kopf des Kindes hielt und an ihre Lippen führte. Er beobachtete den Pulsschlag an ihrem Hals, der nahezu unsichtbar war. Er fühlte ihre Verzweiflung, wenngleich sie nur an dem leichten Zittern ihrer Schultern erkennbar war. Trotzdem fühlte Calder es so deutlich wie sein eigenes Erbeben. Sie brachte ihre ganze Kraft auf, um ihren Atem und ihre Nerven zu beruhigen, damit das sterbende Kind ihre Angst nicht spürte. Calder verfolgte die Szenerie mit einem zutiefst verwirrenden Gefühl des Verlustes. Und dann tat er etwas, was er in all den Jahren als Begleiter noch nie getan hatte.
    Er hoffte, dass das Kind überleben möge.
    Calder sollte den Folgen der von ihm begleiteten sterbenden Menschen neutral gegenüberstehen, was normalerweise auch ganz selbstverständlich für ihn war. Manche Seelen gingen anschließend den Weg gemeinsam mit ihm, andere entschieden sich zu bleiben. Es waren nicht immer die Kränksten, die den Tod wählten, oder diejenigen mit den kleinsten Wunden, die am Leben blieben. Ein Seelenhüter musste jeden Entschluss akzeptieren, ohne Fragen, ohne Urteil. Calder hatte noch nie zuvor den Wunsch gehegt einzugreifen, wenn jedoch nach dem Übergang ein einzelner Trauernder zurückblieb, ohne jede Unterstützung durch Familie oder Freunde, verspürte er durchaus gelegentlich den Impuls, bei demjenigen zu bleiben, auch wenn er das natürlich nicht konnte.
    Während Calder auf die beiden Sterblichen hinabblickte, erklangen Männerstimmen auf dem Korridor – gedämpftes, besorgtes Flüstern –, vielleicht Ärzte oder Priester. Diese Familie konnte sich gewiss die besten Mediziner leisten, doch manche Leiden waren nun mal nicht heilbar.
    Da erschien ein Gentleman in teurer Kleidung mit einem dunklen Backenbart in der Tür des Kinderzimmers und unmittelbar danach eine Frau, die ihm über die Schulter blickte – die Eltern des Kindes? Calder beachtete die beiden kaum, denn er wollte nur ungern den Blick von der Kinderfrau abwenden, so wenig Zeit, wie er mit ihr hatte. Er wusste, ein guter Begleiter würde eine Sterbliche niemals so anstarren, aber er konnte einfach nicht anders.
    Kurz darauf waren die Eltern verschwunden, und ein Kind stand im Türrahmen – ein Mädchen, nicht älter als vier, das neugierig in den
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