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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter
Autoren: Laura Whitcomb
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Gang entlang. Als Nächstes erschien auf der rechten Seite das Festmahl. Hier sahen die Seelen der Toten die Menschen, die sie zurückgelassen hatten: ihre Familien, Kameraden, Geliebten, selbst ihre Feinde. Es war immer ein großes Fest – entweder mit riesigen Platten voll Wildschwein in einer strahlenden Halle oder mit trocken Brot auf einem Holztisch neben einer kleinen Feuerstelle oder gar ein Picknick mit Kuchen und Wein am kleebewachsenen Ufer eines Flusses.
    Der Schauspieler wandte sich der verrauchten Taverne zu, ein vom Lachen und Singen der Männer und Frauen erfüllter Raum, die Ale tranken und gebratenes Huhn mit den Fingern aßen. Sie alle trugen nicht zusammenpassende Kostüme, Federn und falsche Juwelen. Als der Schauspieler die Hand zum Gruß hob, wandten sich die Gesichter der Menge ihm zu, junge Frauen warfen ihm Kusshände zu, die Männer hoben die Becher zum Toast.
    Calder führte den jungen Mann weiter bis zu einer Stelle, wo die Wand zur Linken über und über mit gerahmten Gemälden bedeckt war – alles Szenen, die dem Schauspieler bekannt waren, denn er blieb stehen und betrachtete sie mit offenem Mund. Ein totes Pferd, eine Münze auf einer Handfläche, eine halbabgebrannte Kerze. In dieser Galerie bekamen die Seelen ihre Fehler vor Augen geführt, jene Momente, die sie am meisten bedauerten. Ein Kunstwerk aus glänzendem Lapis und Jade, ein Wandteppich, in die Wände geschnitzte Figuren, zarte Pinselstriche auf Papyrus. Die Erinnerungen trieben dem Schauspieler die Tränen in die Augen, und er wandte nach einer Weile den Blick ab.
    »Es tut mir leid«, flüsterte er.
    »Es ist vorbei«, erwiderte Calder. »Schau.«
    Auf der rechten Seite erschien nun der Garten, in dem die Seelen die Früchte ihres Lebens erblickten. Er konnte die Gestalt eines großen Baumes annehmen oder die eines weiten Feldes voll grünem Weizen, die eines sorgfältig angelegten Kreises von zugeschnittenen Büschen oder die einer Wiese voller Wildblumen. Der Garten des Schauspielers war voller Mandelbäume, von denen jeder Einzelne dem toten Mann die Botschaft übermittelte:
Auf diese Weise hast du die Welt besser gemacht.
    Der Mann schnappte nach Luft und versuchte nach einem der Zweige zu greifen. »Siehst du das?«, flüsterte er.
    Ob diese Bäume nun gute Taten darstellten oder erfolgreiche Stücke, das wusste Calder nicht, denn nur die menschliche Seele konnte ihren eigenen Garten verstehen. »Wunderschön«, erwiderte er daher diplomatisch.
    Dann erschien, wie immer am Ende der Passage, die Zelle. Für den Schauspieler war es nur eine Gefängniszelle, mit kahlen Wänden und einem winzigen vergitterten Fenster. Manche Seelen erblickten verschlossene Schränke, andere Kerker mit Ketten an den Wänden, wieder andere den Boden von tiefen, ausgetrockneten Brunnenschächten. In der Zelle saß ein Gefangener – hin und wieder an einen Pfosten gekettet, an Händen und Füßen gefesselt, an ein Bett gebunden oder wie ein Tier eingesperrt. Entscheidend für die Seele war, dass sie Mitleid mit dem Gefangenen empfand und ihn erkannte.
    In der Zelle des Schauspielers saß ein nackter Mann zitternd in einer Ecke. Staub bedeckte seine Haare, die Knie waren verschrammt. Er stöhnte und ballte die Hände zu Fäusten.
    »Bist du verletzt?«, fragte ihn der Schauspieler, als sie die Zelle betraten.
    Der Gefangene drehte das Gesicht zur Wand.
    »Hab keine Angst«, sagte der Schauspieler und fügte dann hinzu: »Schäm dich nicht.«
    Er kauerte sich neben den Gefangenen, und sie redeten leise miteinander – ein privates Gespräch, das niemand, nicht einmal ein Begleiter, verstehen konnte. Schließlich erhob sich der Schauspieler und lächelte auf den Gefangenen hinab. »Ich werde dir helfen.«
    »Man kommt hier nicht raus«, erwiderte der Mann.
    »Aber die Tür steht doch offen«, sagte der Schauspieler, bot ihm die Hand und deutete auf einen Fleck in der Zellenwand, wo sich eine Öffnung auftat. Der Gefangene ließ sich auf die Beine helfen, und als er dem Schauspieler in die Augen blickte, machte sich Erkenntnis auf dessen Gesicht breit, und er lachte. »Was für ein Narr«, sagte er und umarmte den Nackten, der daraufhin verschwand.
    In diesem Moment fingen viele an zu weinen, manche zitterten auch, andere tanzten vor Freude. Sobald die Seele erkannte, dass sie selbst der Gefangene war, verschmolzen die beiden, und die Zelle verschwand.
    Calder und der Schauspieler standen nun wieder am Strand, nur war es jetzt
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