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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter
Autoren: Laura Whitcomb
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Raum spähte. Calder wollte nicht zu ihm hinübersehen, doch es hatte eine ungemein starke Präsenz, fast wie ein Licht, das sich in einem Spiegel fing und am Rand seines Sichtfeldes aufblitzte. Die Kleine hatte dasselbe rotblonde Haar wie die junge Frau, doch ihr Gesicht war alles andere als engelsgleich. Mit dem spitzen Kinn, der kurzen, runden Nase und den neugierigen Augen unter abenteuerlustig hochgezogenen Brauen sah sie aus wie eine Elfe aus einem Märchenbuch.
    Calder vermutete, dass sie sich vernachlässigt fühlte, da die Kinderfrau so viel Zeit mit ihrem kleinen Bruder verbrachte. Das Mädchen musterte die Frau einen Moment und wandte sich dann Calder zu, die kleinen Fäuste fest in die Hüften gestemmt. Er blickte sie ruhig an. Auch wenn die Seelenhüter für die meisten Erwachsenen unsichtbar waren, konnten kleine Kinder sie oft wahrnehmen – ebenso wie manche Tiere. Doch da diese Kinder oft zu jung waren, um ihre Beobachtungen mitzuteilen und sie die Begegnung außerdem meistens rasch wieder vergaßen, blieb der Orden der Begleiter ein wohlgehütetes Geheimnis.
    Als das elfengleiche Kind ihn beobachtete, bemerkte Calder eine vertraute Bewegung in der Luft, den Geisterwind, der das Zaudern einer Seele begleitete. Der Wind strich durch das Kinderzimmer und zerzauste Calders Haar, ließ jedoch alles Irdische unangetastet. Das war stets der Wendepunkt an einem Todesschauplatz, der geheime Wettstreit zwischen Körper und Geist. Plötzlich senkte sich Stille über den Raum, das Zeichen, dass die Entscheidung gefallen war: Das Baby würde hierbleiben. Es hatte sich für das Leben entschieden.
    Dem Seelenhüter war beinahe übel vor Erleichterung. Am liebsten hätte er sich nicht von der Stelle gerührt, bis die junge Frau sicher war, dass der Junge überleben würde, doch das war nicht möglich. Sie würde ihr Glück erst in einigen Stunden fassen können. Das kleine Mädchen in der Tür dagegen merkte sofort, dass sich etwas verändert hatte. Sie ließ die Hände fallen, als wäre jegliche Bedrohung, die von Calder ausgegangen sein könnte, nun vorüber, und verschwand mit wehenden weiten Röcken aus seinem Blickfeld, wie ein weißes Kaninchen, wenn es sich in seinen Bau zurückzieht.
    Calder spürte, wie die Todestür hinter ihm erneut erschien. Auch wenn er sich danach sehnte zu bleiben, nahm er den Schlüssel, der an einer Kette um seinen Hals hing, und öffnete die Tür, ohne noch einmal zurückzublicken. Er konnte nicht bei der Kinderfrau bleiben, doch zurücklassen konnte er sie auch nicht. Schnell verbannte er die Erinnerung an sie in einer geheimen Ecke seines Geistes, wie ein winziges Medaillon, das er jederzeit öffnen konnte, auch wenn er ihren Namen nicht kannte.

2.
    W ie jeder Begleiter hatte auch Calder nur einen Namen, dafür aber zwei Alter: sein Erdenalter von neunzehn Jahren und sein Totenalter von dreihundertdreißig Jahren. Selbst wenn es keine Entschuldigung für das war, was er zu tun gedachte, so war er für einen Seelenhüter noch sehr jung.
    Der Orden der Begleiter dagegen war schon sehr alt – er gründete sich, als die Ruinen des ersten Gartens auf Erden noch in der Wüste neben einem Fluss zu finden waren, überwuchert von einer Decke aus Wein wie ein Totenhemd. In dieser feuchten Höhle, die einst Eden war, im Herzen ihrer Finsternis, beugte sich der Baum der Erkenntnis zur Erde. Abel, der zweite Sohn von Eva und erste Mensch, der in Eden sterben sollte, wurde der erste Begleiter. Auf dem steinigen Feld östlich des Gartens stand er über den Körper seines Vaters Adam gebeugt, als dieser seinen letzten Atemzug tat.
    Der Orden der Begleiter hatte keine niedergeschriebene Geschichte. Zu der Zeit, als Calders Seele eskortiert wurde, im Jahr des Herrn 1574 , wusste niemand auf der Passage in den Himmel, wie viele Seelenhüter es tatsächlich gab. Manche redeten von eintausenddreihundert, andere von dreizehntausend.
    Für einen jeden Seelenhüter galten die Sieben Gebote:
    Ehre den Orden der Begleiter, indem du andere mehr als dich selbst und Gott über alles liebst.
Stärke den Orden durch Gebete und reine Gedanken.
Öffne alle Todestüren und akzeptiere die Entscheidung jeder Seele über Leben und Tod.
Bringe niemals eine Seele vom Weg über die Passage ab.
Erwähle und bilde wenigstens einen Begleitenden aus.
Beeinflusse niemals die Erdenwelt.
Greife niemals in die Aufgabe eines anderen Begleiters ein.
    Als Calder durch die Tür trat, um zum nächsten Todesort zu gelangen, und
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