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Seelenglanz

Seelenglanz

Titel: Seelenglanz
Autoren: Brigitte Melzer
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Reichweite gelangte, löste er den Bann, der mich gefangen hielt. Ich ließ mein Schwert fallen und fing die Akte auf.
    »Nimm deinen Platz an meiner Seite wieder ein, Kyriel Seelenfänger.«
    Ich rührte mich nicht, auch dann nicht, als Luzifer an seine rechte Seite deutete – auf den Platz, der über Jahrtausende der meine gewesen war. Machte er Witze? Vor ein paar Stunden noch hatte er mir die Flügel ausgerissen und mich, ohne mit der Wimper zu zucken, an einen glühenden Felsen gekettet, und plötzlich tat er, als wäre das alles nicht passiert!
    »Du zögerst.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Schließlich nickte er. »Du hast nicht ernsthaft geglaubt, dass ich dir das anbieten würde, oder? Tatsächlich wollte ich nur sehen, wie du reagierst. Und dein Blick spricht Bände. Du hast dich längst entschieden.«
    Als er es aussprach, wurde es auch mir bewusst. Ein Teil von mir hatte es schon seit Langem gewusst – wahrscheinlich seit ich ihn zum ersten Mal damit konfrontiert hatte, wie sehr er sich verändert hatte. Ich wusste, dass es für mich kein Zurück mehr gab, und ich wusste auch, dass mir der Weg in die Gemeinschaft der Engel verwehrt bleiben würde. Wenn ich hier herauskam, erwartete mich das einsame Dasein eines Ausgestoßenen. Trotzdem fiel es mir nicht schwer, mich von Luzifer loszusagen.
    »Ich bin kein Seelenfänger mehr«, sagte ich. »Ich bin Kyriel Schutzengel.« Auch das würde ich nicht mehr lange sein, doch in diesem Augenblick fühlte ich es aus tiefstem Herzen. Ganz egal wie die Zukunft aussehen mochte.
    »Verschwinde, bevor ich meine Großzügigkeit bereue.«
    Das wollte ich mir nicht zweimal sagen lassen. Jules’ Akte in der Hand öffnete ich meine Signatur.
    »Kyriel.«
    Ich hielt inne.
    Wieder sah er mich lange an, in seinen Zügen kämpften Bedauern und Wut gegeneinander. Die Wut war groß, groß genug, dass ich begann mir Sorgen zu machen, ob er es sich nicht doch noch einmal überlegen würde – und mich entweder erneut an den Felsen kettete oder mir eine Ladung Gefrierbrand verpasste und mich wie ein Sparschwein zerschmetterte. Spätestens wenn er herausfand, wie leer die Regale in seinem Allerheiligsten geworden waren, würde er seine Meinung ganz sicher ändern.
    Die Wut wich aus seinem Blick. »Ich bedaure, wie sich die Dinge zwischen uns entwickelt haben.«
    »Ich auch.« Das tat ich wirklich. Luzifer war über die Jahrtausende hinweg wie ein Bruder für mich gewesen. Jemand, dem ich jederzeit blind vertraut hatte. Diesem blinden Vertrauen war es auch geschuldet, dass ich die Wahrheit so lange nicht erkannt hatte. Vielleicht hatte ich sie auch erkannt und nur die Augen davor verschlossen, weil ich nicht bereit gewesen war, die Konsequenzen zu tragen, die diese Erkenntnis mit sich gebracht hätte. Konsequenzen, die ich nun bereitwillig auf mich nahm, indem ich mein gewohntes Leben verließ und zu einer Reise ins Unbekannte aufbrach.
    »Ich werde Kyriel Seelenfänger immer als meinen Freund in Erinnerung behalten«, fuhr Luzifer fort. »Kyriel Schutzengel jedoch hat nichts mehr von mir zu erwarten. Ich werde nicht zögern, wenn wir uns das nächste Mal gegenüberstehen.«
    Ich nickte – wissend, dass auch ich nicht zögern würde.
    Als ich mich versetzte, folgten mir seine letzten Wortewie ein Echo durch Raum und Zeit: »Du wirst dafür büßen, was du mit meinen Seelen gemacht hast.«

36
    Mir war die Bedeutung seiner letzten Worte nur zu deutlich bewusst: Für den Augenblick ließ er mich ziehen, in Erinnerung an das, was uns einmal verbunden hatte. Sollten sich unsere Wege jedoch noch einmal kreuzen, würde er alles daransetzen, mich zu töten.
    Es erstaunte mich ohnehin, dass er mich davonkommen ließ. Sicher, eine Drohung von Luzifer war kein Kinderspiel, und ich würde in Zukunft ausgesprochen vorsichtig sein müssen, doch allein der Umstand, dass er mich nicht sofort erledigt hatte, zeigte mir, dass ihm meine Freundschaft einmal etwas bedeutet haben musste.
    Ich suchte nach Jules’ Signatur und stieß erleichtert den Atem aus, als ich sie sofort fand. Sie war am Leben. Mit dem Schwert in der einen und der Akte in der anderen Hand landete ich neben ihr auf der Wiese und sah mich kampfbereit um.
    Der Morgen war mittlerweile angebrochen, erste zaghafte Sonnenstrahlen tasteten sich über den taunassen Boden. Engel und Gefallene waren fort, das Gras war niedergetrampelt und teilweise versengt. Wenn es Tote gegeben hatte, waren sie bereits zu Asche verbrannt oder von
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