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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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sind verschwunden wie die Dinosaurier. Ich bin mit einer kugelsicheren Weste rumgelaufen, auf mich wurde auch schon geschossen. Wenn jemand schlechtere Wurst isst als ich, kümmert mich das nicht. Ihr habt den Kapitalismus doch alle gewollt. Habt davon geträumt! Also schreit jetzt nicht, dass man euch betrogen hat …«
Davon, dass wir unter Tätern
und Opfern aufgewachsen sind
     
    »Eines Abends gingen wir ins Kino. Da lag ein Mann in einer Blutlache. Sein Mantel hatte auf dem Rücken ein Einschussloch. Daneben stand ein Milizionär. So habe ich zum ersten Mal einen Ermordeten gesehen. Bald gewöhnte ich mich daran. Unser Haus ist groß, zwanzig Eingänge. Jeden Morgen wurde auf dem Hof eine Leiche gefunden, das entsetzte uns schon nicht mehr. So begann der echte Kapitalismus. Mit Blutvergießen. Ich meinte, ich müsste erschüttert sein, aber das war ich nicht. Seit Stalin haben wir ein anderes Verhältnis zum Blutvergießen … Wir erinnern uns noch daran, wie Menschen von den eigenen Leuten getötet wurden … An die massenhafte Ermordung von Menschen, die nicht wussten, warum sie getötet wurden … Das ist im Gedächtnis geblieben, das gehört zu unserem Leben. Wir sind unter Tätern und Opfern aufgewachsen … Für uns ist dieses Zusammenleben normal. Es gibt keine Grenze zwischen Krieg und Frieden. Es herrscht immer Krieg. Wenn man den Fernseher anmacht – da reden alle Kriminellenjargon, Politiker, Unternehmer … auch der Präsident. Ablöse, schmieren, absahnen … Ein Menschenleben ist einen Scheißdreck wert. Wie im Lager …«
     
    »Warum haben wir Stalin nicht verurteilt? Das kann ich Ihnen sagen … Um Stalin zu verurteilen, müssten wir unsere Angehörigen und Freunde verurteilen. Menschen, die uns nahestehen. Ich will Ihnen von meiner Familie erzählen … Mein Vater wurde 1937 eingesperrt, Gott sei Dank kam er wieder, aber er hat zehn Jahre gesessen. Er kam zurück und hatte einen unbändigen Drang zu leben, er wollte leben … Er staunte selbst, dass er nach allem, was er gesehen und erlebt hatte, so sehr leben wollte … Das war nicht bei allen so, längst nicht bei allen … Meine Generation ist mit Vätern aufgewachsen, die entweder aus dem Lager oder aus dem Krieg kamen. Das Einzige, wovon sie uns erzählen konnten, war Gewalt. Und Tod. Sie lachten selten, waren schweigsam. Und sie tranken … sie tranken … Und wurden schließlich zu Trinkern. Die andere Variante … Wenn jemand verhaftet worden war, hatten sie die ganze Zeit Angst, auch verhaftet zu werden. Und das nicht einen Monat lang oder zwei, nein, jahrelang! Wer nicht verhaftet wurde, fragte sich: Warum werden alle verhaftet, nur ich nicht? Was mache ich falsch? Man konnte verhaftet werden, aber man konnte auch zum Dienst beim NKWD verpflichtet werden … Die Partei bittet, die Partei befiehlt. Eine unangenehme Entscheidung, aber viele mussten sie treffen … Und nun zu den Tätern … Den ganz gewöhnlichen, nicht schlimmen … Mein Vater wurde von unserem Nachbarn denunziert … von Onkel Jura … Wegen einer Lappalie, wie meine Mutter sagte. Ich war sieben Jahre alt. Onkel Jura nahm immer seine Kinder und mich mit zum Angeln, er ließ uns auf einem Pferd reiten. Er reparierte unseren Zaun. Verstehen Sie, das ist ein ganz anderes Bild eines Täters – ein ganz normaler Mensch, ein guter sogar … Ein ganz normaler Mensch … Mein Vater wurde verhaftet, ein paar Monate später auch sein Bruder. Unter Jelzin habe ich seine Akte bekommen, sie enthielt mehrere Denunziationen, eine von Tante Olja … seiner Nichte … Sie war eine schöne, fröhliche Frau … Konnte gut singen … Sie war schon alt, und ich fragte sie: ›Tante Olja, erzähl mir von 1937 …‹ ›Das war das glücklichste Jahr meines Lebens. Ich war verliebt‹, antwortete sie … Vaters Bruder kehrte nicht nach Hause zurück. Er ist verschollen. Im Gefängnis oder im Lager – das weiß niemand. Obwohl es mir schwerfiel, stellte ich Tante Olja die Frage, die mich so quälte: ›Warum hast du das getan, Tante Olja?‹ (Er schweigt.) Und dann war da noch Onkel Pawel, der hat in Sibirien bei den NKWD -Truppen gedient … Verstehen Sie, das Böse, das ist nie chemisch rein … Das sind nicht nur Stalin und Berija … Das sind auch Onkel Jura und die schöne Tante Olja …«
     
    1. Mai. An diesem Tag marschieren viele Tausend Kommunisten durch die Straßen von Moskau. Die Hauptstadt wird wieder rot: rote Fahnen, rote Luftballons, rote T- Shirts mit Hammer und Sichel.
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