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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten
Autoren: Michael Theurillat
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Eschenbach ebenso höflich. »Holen Sie ihn bitte an den Apparat.« Der Kommissar saß frisch geduscht am Tisch, vor sich die Unterlagen. Weil sein Hemd vom Tag zuvor völlig durchgeschwitzt war, trug er eines von Lenz. Rotblaue Karos. Bestimmt zwanzig Jahre alt.
    »Sagen Sie mir, um was es geht. Herr Kronenberger ist ein vielbeschäftigter Mann. Ein Stichwort zur Sache … dann kann ich es ihm ausrichten.«
    Eschenbach seufzte hörbar. Er blätterte kurz durch die Sei-
ten. »Bellechasse … Sagen Sie Herrn Kronenberger, es gehe um Bellechasse.«
    »Und was soll das heißen, bitte? Belle-was?«
    »Chasse!«, sagte Eschenbach noch immer höflich. »Die schöne Jagd – aber sagen Sie es ihm auf Französisch. Ich werde es Ihnen buchstabieren.«
    »Jetzt, wo man’s liest«, sagte die Frau.
    Eschenbach gab ihr seine Telefonnummer. Der Rückruf erfolgte knapp fünf Minuten später.
    »Kommen Sie, Eschenbach! Was spielen Sie sich denn auf? Sie wissen doch nichts.«
    »Alles«, sagte der Kommissar, der sich inzwischen eine Brissago angezündet hatte. Er zog ein Blatt aus dem Mäppchen und begann zu lesen. Eine halbe Seite. »Soll ich weitermachen?«
    »Nein, schon gut.« Ein Moment verging, bis KronenbergersStimme wieder da war. »Kommen Sie vorbei … Ich sehe, Sie haben sich da regelrecht in etwas verbissen. Sind ein sturer Hund, Eschenbach. In einer Stunde, geht das? Sie wissen ja, wo wir sind.«
    Nachdem der Kommissar aufgelegt hatte, setzte er sich für einen Moment draußen auf Lenzens Sitzplatz unters Vordach und hörte dem Regen zu, wie er unablässig auf die Dachrinne trommelte. Als er aufstand und wieder zurück in die Wohnung wollte, da fiel sein Blick auf die kleine Gartenschere, die auf dem Fenstersims lag. Eschenbach nahm sie, setzte sich nochmals hin und schnitt sich den Gips vom Fuß. Es dauerte nicht lange, und sein bleicher Knöchel war wieder frei. Der Kommissar wusste nicht, warum er nicht schon früher auf diesen Gedanken gekommen war.

ELFMETERSCHIESSEN

Der Tormann überlegt sich, in welche Ecke der andere schießen wird. Wenn er den Schützen kennt, weiß er, welche Ecke er sich in der Regel aussucht. Möglicherweise rechnet aber auch der Elfmeterschütze damit, dass der Tormann sich das überlegt. Also überlegt sich der Tormann weiter, dass der Ball heute einmal in die andere Ecke kommt. Wie aber, wenn der Schütze noch immer mit dem Tormann mitdenkt und nun doch in die übliche Ecke schießen will? Und so weiter, und so weiter.
    [Aus: Peter Handke, Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1970 ]

Wenn Eschenbach früher diesen Weg gefahren war, hinauf auf den Zürichberg, dann war es wegen der Löwen gewesen. Kathrin liebte Löwen. Sie mochte auch Königspinguine, Strauße, Kamele, Ziegen – im Großen und Ganzen gefielen ihr alle Tiere, die es im Zürcher Zoo zu sehen gab. Aber bei den Löwen war es anders; Kathrin bewunderte sie. Und als der Zoo vor einigen Jahren ein neues Löwengehege geplant hatte und mit einem Spendenaufruf an die Öffentlichkeit gegangen war, hatte Kathrin ihr kleines Sparschwein geschlachtet: achtundsiebzig Franken und zwanzig Rappen. Corina und er hatten den Betrag großzügig aufgerundet. »Weil sie stark und mutig sind – und trotzdem sanft. Wie Könige.« Mit diesem Satz hatte ihre Tochter damals ihre Spende begründet und den kurzen Brief zusammen mit einer Zeichnung der Zooleitung geschickt. Eschenbach hatte Kathrin gefragt, weshalb es denn Mut brauche, in einem Gehege durchgefüttert zu werden. Und schließlich würde von den Mitbewohnern, den asiatischen Zwergottern und den paar großen Alexandersittichen, keine wirkliche Gefahr ausgehen.
    »Ich weiß, dass sie mutig sind. Sie müssen es mir nicht beweisen«, hatte ihre knappe Antwort gelautet.
    Als Eschenbach die Anhöhe erreichte, sah er das Gebäude der FIFA von weitem. Es lag direkt neben dem großangelegten Zoogelände. Vielleicht lag aber auch der Zoo neben dem gigantischen Bau des Weltfußballverbands. Es war eine Frage des Standpunktes und der Interessen. Möglicherweise spielte das Alter des Betrachters ebenfalls eine Rolle.
    Eschenbach dachte nicht weiter darüber nach, stellte seinen Wagen auf den Parkplatz und stieg aus.
    Es goss nun in Strömen.
    Zügigen Schrittes, die Hülle unter seinem Jackett an die Brust gepresst, schritt der Kommissar durch die mit Fahnenmasten gesäumte Allee. Die Flaggen der Mitgliedsstaaten klebten reglos an den Metallstangen, als
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