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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten
Autoren: Michael Theurillat
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wollten sie ihre Identität verbergen.
    Vor Eschenbach, der inzwischen bis auf die Knochen nass war, lag ein gewaltiger, mit Aluminiumnetzen umgarnter Betonklotz. Länge mal Breite entsprachen die Ausmaße ungefähr jenen eines Fußballfeldes. Über zehn Meter ragte der Bau in den düsteren Himmel.
    Wie ein nasser Hund trat der Kommissar in die lichtdurchflutete Eingangshalle. Eine große Leere empfing ihn. Irgendwo oben, weit oben, hing eine Decke; und als würde das Gesetz der Perspektive außer Kraft gesetzt, weitete sich der Raum vor Eschenbachs Auge und schien nahtlos in den angrenzenden Park überzugehen.
    Eine Kathedrale der Neuzeit.
    Eschenbach blieb einen Moment stehen und verschnaufte. Er sah auf seine Schuhe. Etwas Wasser hatte sich um sie herum angesammelt. Eine kleine Pfütze, und durch sie schimmerte – wie durch ein Vergrößerungsglas – der Stein des Bodens. Verblüfft bückte sich der Kommissar, um ihn aus der Nähe zu betrachten. Steine hatten schon immer eine besondere Faszination auf ihn ausgeübt. Es war blauer Lapislazuli.
    Der Kommissar erhob sich wieder. Er realisierte, dass sich der blaue Halbedelstein nicht nur hier fand. Er war überall! Eingebettet in sein sandfarbenes Muttergestein zog er sich durch Hunderte von Quadratmetern bis zum entfernten Ende dieses gewaltigen Entrees.
    Mit einem unglaublichen Gefühl des Reichtums, weil dieserBoden ihn trug, näherte er sich langsam den Empfangstischen in der Mitte der Halle.
    »Sie wünschen, Monsieur?«
    Noch immer ganz fasziniert, hob der Kommissar den Blick vom Boden und sagte: »Kronenberger … Alexander Kronenberger. Ich werde erwartet.«
    Es vergingen keine zwei Minuten. Eine junge Frau in elegantem Deuxpièces kam und bat ihn, ihr zu folgen. Mit dem Aufzug fuhren sie in das dritte Untergeschoss. »Das eigentliche Herz der FIFA befindet sich hier unten«, sagte sie.
    Eschenbach wurde durch einen Gang geführt bis vor eine Tür.
    »Das ist unser großer Sitzungsraum«, sagte sie und bat den Kommissar einzutreten. »Hier tagen die ständigen Kommissionen … und natürlich auch das Exekutivkomitee. Sie wissen, das oberste Gremium des Weltfußballs.«
    Eschenbach nickte. Ihm fiel als Erstes der gigantische Kristallleuchter an der Decke auf, von dem ein mildes Licht ausging und dessen Form ihn an eine Fußballarena erinnerte.
    »Und hier in der Mitte …« Die Frau deutete auf die glänzende Fläche am Boden, direkt unter dem Leuchter. »Eingelassen in Lapislazuli, also da befindet sich der Grundstein des Home of FIFA . Es ist ein Betonkubus, der einen überdimensionierten Fußball umfasst. Und darin befinden sich Säcke mit Erde aus den Ländern aller FIFA -Verbände, damit sie für die Nachwelt erhalten bleiben.«
    »So, so, für die Nachwelt«, sagte Eschenbach leise. Sein etwas spöttisches Grinsen verflog, als er bemerkte, wie ernst es der jungen Frau war. Wie eine demütige Hirtin stand sie neben ihm und starrte eine Weile auf den bläulich schimmernden Stein. Das Zentrum der Welt, dachte er.
    Das Heiligtum in der Mitte wurde von einem überdimensionalen, rechteckigen Tischkomplex umschlossen, wie ein Spielfeld, das durch Seiten- und Torlinien abgegrenzt wird.
    Der Kommissar begann die schwarzen Ledersessel zu zählen. Die Frau schien es zu bemerken und lächelte: »Jeder hat seinenPlatz. Hier oben der Präsident … dann die vierundzwanzig Mitglieder des Exekutivkomitees.« Sie blickte etwas nervös auf die Uhr. »Ich werde einmal nachsehen, wo Doktor Kronenberger bleibt.«
    Eschenbach nickte und blieb stehen. Er war froh um diesen kurzen Moment der Besinnung. Es war ein imposanter Ort, an den er gekommen war. Und dennoch wollte er sich partout nicht einnehmen lassen von dem Charisma der Macht. Er schloss die Augen.
    Es war die konsequente Fortführung der Geschichte, dachte er. Die Tempel der Pharaonen, später die sakralen Prunkbauten der Griechen, der Römer und schließlich jene der katholischen Kirche und des Islam. Aber die Zukunft, sie lag hier – einer ganz anderen Bewegung zu Füßen. Eschenbach öffnete die Augen, wieder sah er in das Licht des Kristallleuchters: Die Zukunft gehörte den Arenen des Fußballs. Das hatte er nun begriffen.
    Die Frau im dunkelblauen Deuxpièces kam zurück und entschuldigte sich. »Doktor Kronenberger erwartet Sie gleich nebenan, bitte folgen Sie mir.«
    Der Raum, in den Eschenbach als Nächstes geführt wurde, war weder hell noch dunkel. Das diffuse Licht strahlte von einem hellen
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