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Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Titel: Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
Autoren: Dirk Stermann
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verständlicherweise.
    Neben mir wohnte eine brustamputierte Alkoholikerin und unter mir eine Alkoholikerin mit Kleinkind, die regelmäßig betrunken im Treppenhaus lag. Wenn man ihr helfen wollte, schrie sie: »Du Oasch willst mir ja eh nur das Kind wegnehmen!«
    »Nein, will ich nicht. Ich möchte Ihnen nur helfen.«
    Sie murmelte unverständliche Dinge, die Wörter »Jugendamt« und »Kind« kamen darin vor. Mehrmals vergaß sie, dass sie während des Trinkens kochte. Dichter Rauch drang dann aus ihrem Fenster. Zusammen mit einem unheimlichen Nachbarn klärte ich die Situation, indem der Nachbar mithilfe einer großen Leiter, die ich unten festhielt, bemerkenswert gekonnt bei ihr durchs Fenster einstieg und das Feuer löschte. Aus dem Qualm hörte ich sie undeutlich »Jugendamt« und »Kind« rufen.
    Der Nachbar war blass und hatte dünnes Haar, klarsichtfolienfarben. Seine Pullover waren blass wie er und schienen auch aus dünnem Haar gewebt zu sein. Er verließ seine Wohnung nie, jedenfalls nicht tagsüber, was mir sehr recht war, denn so fungierte er als menschlicher Rauchmelder für die Wohnung der trinkenden Mutter.
    Die brustamputierte Alkoholikerin, die zwischen mir und dem Blassen wohnte, besorgte sich jede Nacht einen anderen Mann aus den vielen Lokalen und Branntweinstuben rund um den Naschmarkt. Sie war sehr schwer, selbst mit nur einer Brust, man hörte es an den Schleifgeräuschen, wenn ihre Männer sie die Treppen raufzogen, und dann hörte man, wie versucht wurde, ihre Wohnung aufzubrechen. Denn mit der Brust hatte sie auch die Fähigkeit verloren, ihre Wohnungsschlüssel mit sich zu tragen. Ich bekam für solche Fälle einen Ersatzschlüssel von ihr, aber bevor der zum Einsatz kam, versuchten die nächtlichen Ankömmlinge, sich anderweitig zu behelfen. Die Männer fuhrwerkten oft um vier Uhr früh mit einem Stemmeisen an der Tür herum, neben sich die beinahe besinnungslose dicke Frau auf dem Boden, und schauten irritiert, wenn ich mit einem Schlüssel in der Hand aus der Nebenwohnung kam und wortlos die Tür aufsperrte.
    Aber all das wusste ich noch nicht, als ich auf der Party in der prachtvollen Wohnung in der Schleifmühlgasse war. Es war mein zweiter Tag in Wien.
    »Willste auch ein Cola-Rot?«, fragte Hartmut.
    »Wieso eigentlich immer ein Cola? Eine heißt’s ja wohl. Eine Cola.«
    »Mach mal ruhig, du bist hier nicht in D-dorf, hier heißt das eben ein Cola. Sächlich, verstehste?
    »Sächlich? Meinst du jetzt sächsisch?« Ich war verwirrt. Hartmut war merkwürdig. Er war sehr groß und hatte tiefsitzende Akne, tief in der Haut verankert, aber auch tief unten im Gesicht. Mit den Knochen verwachsen. Sein Kinn war übersät mit Kratern und aktiven Vulkanen, kleinen roten Aknehügeln mit eitrigen, gelben Krönchen. Der Rest des Gesichts war fast menschlich, immerhin. »Akne Fortuna«, sagten wir in Düsseldorf, wegen Fortuna Düsseldorf und den Vereinsfarben Rot und Weiß, und deshalb sagten wir auch Pommes Fortuna, wenn’s mit Ketchup und Mayo sein sollte.
    »Sächsisch? Was soll das denn jetzt? Das Cola heißt es hier, Mann, du musst echt noch viel lernen. Das Cola, aber der Radio. In Wien sagt man der Radio und der Polster, nicht das . Und Polster ist Kissen.«
    »Der Kissen?«
    » Das Kissen, der Polster.«
    »Alles klar, dann bin ich ja jetzt gerüstet. Jetzt kann wohl nichts mehr schiefgehen, danke, Hartmut, das mit der Cola war echt ein guter Tipp.«
    » Dem Cola – das Cola heißt’s, klar?«
    »Echt, Hartmut, du scheinst mir ein echter Auskenner zu sein.«
    »Wirste auch noch lernen. Wie lang willste bleiben?«
    »Weiß nicht – ein, zwei Semester. Bin ja grad erst angekommen. Sag mal, kannste mir noch eine Rotwein bringen – oder ein Rotwein, ich weiß ja nicht, wie das heißt.«
    » Ein Rotwein, ganz normal. Männlich. Kennst du Travnicek?«
    »Was? Nee, kenn ich nicht. Bringst du mir trotzdem ein Glas? Ich kann’s mir auch selber holen, aber ich kenn hier keinen, ist irgendwie peinlich, ich bin ja nur Gast hier in diesem Land, stimmt’s, Hartmut?«
    Hartmut nickte und streckte den Kopf. Unvorteilhaft, sein Kinn so zu präsentieren, wenn man unter Fortunahaut leidet. Aber Hartmut hatte etwas vor. Er räusperte sich. Mit einer leicht veränderten Stimme begann er zu sprechen, offensichtlich bemüht, irgendeinen österreichischen Dialekt nachzuahmen.
    »Was wollens trinken? – A Viertel. – Rot oder weiß? – Hams schon mal einen roten Sliwowitz gsehn?« Er schaute
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