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Sechs Brüder wie wir

Sechs Brüder wie wir

Titel: Sechs Brüder wie wir
Autoren: Ravensburger
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verstummte.
    „Die Zeit ist um“, meinte Papa und blickte von seiner Armbanduhr hoch. „Er hat gewählt.“
    Vier gegen einen. Die Mehrheit hatte entschieden: Ende Juli würden wir aus Cherbourg fortziehen, und danach gäbe es keinen François Archampaut mehr, keine Sonntagstörtchen aus der Konditorei Boudineau, kein Schwimmbad am Samstagnachmittag und auch nicht mehr das Geschäft mit Zauberutensilien auf dem Heimweg von der Schule …
    Am Abend bin ich mit einem seltsamen Kloß im Hals schlafen gegangen. Selbst wenn die Wohnung für uns alle zu klein war und ich mir das Zimmer mit Jean Eins teilen musste, so war es doch unsere Wohnung, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie wir woanders leben sollten.
    Wo würde ich mir jede Woche mein Spirou-Heftchen kaufen? Und meine Kokoskugeln? Schluss mit dem Rollschuhfahren auf dem Parkplatz vor unserem Hochhaus, mit dem sonntäglichen Mittagessen im Marineclub, mit dem Fernsehgucken im Schaufenster des Elektrogeschäfts … Sogar der Regen am Donnerstagnachmittag würde mir fehlen und die Tage, an denen man zu Fuß bis in den elften Stock hochsteigen musste, weil der Aufzug mal wieder kaputt war.
    Obwohl ich mir manchmal wünsche, ein Einzelkind zu sein, hasse ich Veränderungen. Und ein Umzug ist ja wohl die schlimmste Veränderung, die es geben kann. Das wünsche ich wirklich keinem, selbst meinem schlimmsten Feind nicht.
    „Mach nicht so ein Gesicht, Blödmann!“ Jean Eins beugte sich aus seinem Bett zu mir herunter. „Du wirst sehen, in Toulon lernen wir jede Menge neue Freunde kennen. Und außerdem bist du dann schon bei den Großen, wie ich. Wir können uns dann in der Pause immer prügeln, nur wir zwei.“
    Er feixte im Dunkeln, aber ich spürte, wie verunsichert er war.
    „Selber Blödmann“, sagte ich.
    Doch mit den Gedanken war ich woanders.

Das Schuljahr ist rasend schnell zu Ende gegangen.
    Aber diesmal wäre es mir lieber gewesen, wenn es nie aufgehört hätte. Es gab noch so viele Sachen, die ich unbedingt tun wollte, bevor wir aus Cherbourg wegzogen: einen Cowboyfilm im Rexkino anschauen, die restlichen Bände der Fünf Freunde aus der Stadtbücherei ausleihen und mich trauen, endlich einmal ein paar Sätze zu Nathalie zu sagen, der Tochter von Herrn Martel, die so lustige Rattenschwänze hatte und in die Mädchenschule neben unserer Grundschule für Jungs ging …
    In der fünften Klasse wird alles anders. Jungs und Mädchen sind nicht mehr getrennt, sondern gehen in dieselbe Klasse. Wenn wir nicht umziehen würden, könnte ich Nathalie im neuen Schuljahr jeden Tag sehen. Und vielleicht sogar mit ihr reden, wer weiß.
    Jean Eins sagt, dass die Tochter von Herrn Martel ihn an Anne aus den Fünf Freunden erinnert. Er selbst mag am liebsten George, weil sie eigentlich gar nicht wie ein Mädchen ist. Und außerdem findet er sowieso, dass um Mädchen zu viel Aufhebens gemacht wird, aber das kommt daher, weil er eine Brille tragen muss und die Schwester von Stéphane Le Bihan in Latein bessere Noten hat als er.
    Jean Drei sagt, dass Jean Eins heimlich in die Schwester von Stéphane Le Bihan verliebt ist und dass er sich deswegen morgens im Bad stundenlang die Haare kämmt, bevor er in die Schule geht.
    „Ich hab da einen Wirbel, Blödmann“, schimpft Jean Eins jedes Mal. „Außerdem heirate ich gar nicht, wenn ich groß bin. Ich hab dann in meiner Garage einen Rennwagen und auf der Haustür bringe ich ein Schild an, auf dem steht: ‚Für Mädchen Zutritt strengstens verboten‘.“
    Aber einmal hat Jean Drei sich einen Spaß daraus gemacht, der Schwester von Stéphane Le Bihan durchs Schaufenster des Lebensmittelladens eine Grimasse zu schneiden, als sie sich dort gerade ein paar Bonbons kaufte, und da klebte Jean Eins ihm eine Ohrfeige, dass der Abdruck eine Woche lang auf seiner Wange zu sehen war.
    Das werde ich am meisten vermissen, wenn wir hier aus Cherbourg wegziehen: unsere Streitereien auf dem Heimweg von der Schule.
    Am letzten Schultag hat Herr Martel einen kleinen gemeinsamen Imbiss organisiert, um das Schuljahresende zu feiern.
    Er lud dazu die Abschlussklasse aus der Mädchenschule ein, aber wir Jungs sind alle in einer Ecke zusammengestanden und haben Witze gerissen, während die Mädchen kicherten und sich mit unseren Kuchen den Bauch vollschlugen.
    Danach sind wir alle hinaus auf den Pausenhof, aber die Mädchen haben die ganze Zeit nur Gummitwist gespielt und sich kichernd irgendwelche Geheimnisse ins Ohr geflüstert. Um auch
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