Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sechs Brüder wie wir

Sechs Brüder wie wir

Titel: Sechs Brüder wie wir
Autoren: Ravensburger
Vom Netzwerk:
über unseren Köpfen am Ende seiner Schnur tanzte.
    Am meisten aber staunte über den fliegenden Drachen die Turteltaube, die Opa an diesem Nachmittag wieder in die Freiheit entließ. Mit leisen Ruckedigu-Ruckedigu-Lauten trippelte Long John Silver bis zur offenen Tür des Käfigs und klappte dabei immer wieder sein Auge zu, als traue er dem Ganzen noch nicht. Dann machte er einen Satz, war draußen und rannte über das Gras.
    Wir sahen ihm zu, wie er am Ende der Wiese höher und immer höher flog, zurückkam und erneut aufflog, wie er den Drachen umkreiste, als ertrage er es nicht, ihn so gefangen zu sehen, und als wolle er ihn locken, ihm doch zu folgen.
    Die Sonne ging allmählich unter, es war an der Zeit, Apollo Jean loszubinden, wenn wir wollten, dass er noch bei Tag die Stratosphäre erreichte.
    „Die Ehre gebührt dir, Jean Zwei“, sagte Jean Eins mit vollem Mund, weil er gerade ein großes Stück Kirschkuchen abgebissen hatte.
    „Mir?“, fragte ich erstaunt zurück.
    „Es war deine Idee, Blödmann“, sagte er achselzuckend. „Ich wollte ja lieber eine richtige Rakete basteln, mit Knallfröschen und einer Raumkapsel für Erstes und Zweites Programm. Sie wären die ersten Katzen im Weltraum gewesen.“
    Aber Opa war dagegen gewesen, weil er Angst hatte, dass Erstes und Zweites Programm irgendwann da draußen verglühen würden.
    „Glaubst du, dass ein Drachen bis zum Mond steigen kann?“, fragte Jean Vier.
    „Aber natürlich“, sagte Opa. „Und noch viel höher.“
    „Und dann sehen die Astronauten ihn an ihrer Rakete vorbeifliegen?“, fragte Jean Drei.
    „Wer weiß?“, sagte Opa Jean.
    Der feierliche Augenblick war gekommen. Ich hielt den Atem an, als ich die Schnur aufknotete, mit der der Drachen an den Tisch gebunden war. Währenddessen zählten die anderen rückwärts: „Sechs! Fünf! Vier! Drei …“
    Der Drachen, um den Long John Silver seine Kreise drehte, zog mit solcher Kraft an der Schnur, dass ich sie mit beiden Händen festhalten musste.
    „Zwei! Eins!“
    Dann habe ich losgelassen.
    Apollo Jean machte einen großen Hüpfer und stieg, vom Wind erfasst, blitzschnell nach oben. Sogar Long John Silver konnte nicht mehr mithalten.
    Dann beruhigte sich sein Flug und er entschwebte immer weiter. Eine Weile lang standen wir noch da und folgten ihm mit den Augen. Schweigend beobachteten wir, wie er zum Horizont fortflog, bis er nur mehr ein winziges schwarzes Komma war, das sich im Raum verirrt hatte und alle unsere Wünsche und Vorsätze fürs nächste Jahr mit sich nahm.
    Und dann – gerade in dem Moment, als der Drachen dabei war, in einem Gebirge aus Wolken, so weiß wie Schlagsahne, zu verschwinden – rief eine Stimme:
    „Miregal!“

Wir drehten uns alle um.
    „Liebling!“, stammelte Papa. „Jean Sechs hat sein erstes Wort gesagt!“
    „Unmöglich“, sagte Mama, „dafür ist er noch viel zu klein!“
    „Miregal!“, wiederholte Jean Sechs und strampelte vergnügt in seinem Hochstuhl.
    „Miregal!“, fragte Papa. „Was soll das denn heißen?“
    „Das ist Latein“, sagte Jean Eins.
    „Latein?“, fragte Papa, strahlte vor Stolz und hob Jean Sechs aus seinem Stuhl. „Liebling! Unser Jüngster hat als erstes Wort etwas auf Latein gesagt!“
    „Unglaublich!“, rief Mama, die ihren Ohren nicht traute. „Welche Intelligenz!“
    „Er kommt ganz nach mir!“, sagte Papa und drückte Jean Sechs fest an sich.
    Als wir uns alle um ihn drängten, um ihn zu beglückwünschen, bekam Jean Sechs einen roten Kopf und hielt den Atem an, deshalb reichte Papa ihn schnell an Mama weiter.
    „Könnte sein, dass die Windel unseres kleinen Lateiners voll ist, mein Schatz.“
    „Aber eines möchte ich jetzt doch wissen“, sagte Mama. „Was bedeutet eigentlich ‚miregal‘?“
    Opa zwinkerte uns zu.
    „Ende gut, alles gut. Oder was meint ihr, Jungs?“
    Am Abend – das Abschiedsfest war vorbei und alle im Haus schliefen – habe ich dann mein geheimes Tagebuch herausgezogen und mir einen Titel für den Roman ausgedacht, den ich schreiben werde, sobald wir in Toulon sind.
    Er wird den Titel Der fliegende Camembert tragen und die Geschichte einer Mannschaft von sechs Astronauten sein, die in einer Geheimmission zum Mars unterwegs sind, unter dem Kommando eines Superhelden namens Jean Zwei.
    Weil sie nämlich beschlossen haben, alle ihre Möbel mitzunehmen, ähnelt ihr Raumschiff ein wenig einem intergalaktischen Umzugslaster, mit einem Dachgepäckträger und einem bebrillten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher