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Schwindlerinnen: Roman (German Edition)

Schwindlerinnen: Roman (German Edition)

Titel: Schwindlerinnen: Roman (German Edition)
Autoren: Kerstin Ekman
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die Manuskriptseiten zu konzentrieren, aber von seiner Tastatur dringt ihr ein emsiges Klicken und von seiner Nase ein lockeres Geschniefe ans Ohr. Ab und zu schnäuzt er sich inhaltsreich in ein Papierhandtuch aus der Toilette, sodass Lillemor flieht und sich in die Leseecke setzt, die gerade leer ist. Es kann aber jemand kommen, und damit das dicke Manuskript keine Aufmerksamkeit erregt, zieht sie wahllos einen Zeitschriftenband aus einem Regal. Es ist Ny Illustrerad Tidning aus irgendeinem 1880er-Jahr, die sie aufgeschlagen auf den Tisch legt. Ihren Extischnachbarn hört sie immer noch schniefen, wenn auch jetzt entfernt.
    Sie kann sich gerade noch mal anschauen, was sie über die Begegnung im Engelska Parken schon gelesen hat, da bekommt sie auch hier Gesellschaft. Wenigstens ist es kein Bekannter. Aber den Affen kennen alle, nur der Affe kennt keinen. Es überrascht sie also nicht, als der Mensch, rundes Gesicht und Schifferbart und in ihrem Alter, zischt: »Neuer Roman in Arbeit?«
    Die Königliche Bibliothek ist zu einem Treff für alte Knacker geworden, denkt sie. Hier laufen zu viele pensionierte Humanisten herum und lechzen nach Gesellschaft.
    »Ich prüfe nur Zitate«, brummelt sie und macht einen möglichst beschäftigten Eindruck. Während sie in der Ny Illustrerad Tidning blättert, fesselt sie eine Initiale mit einem ausgemergelten Jungen mit einer Krücke. Über ihm schwebt ein Schutzengel, und unter ihm ist ein Blumenstrauß. Um glaubwürdig zu wirken, liest sie das Gedicht mit dem Titel Erbarmen .
    Wie kann dein Herz ihr widerstehn
    Der Bitte derer, die vergehn
    Zum Leid verdammt am Lebensmorgen?
    Unwillkürlich denkt sie an den Geiger im Tunnel, an dem sie vorbeigestürmt ist, ohne ihm etwas in den Geigenkasten zu legen. Und als sie weiterliest, sieht sie Fernsehbilder abgemagerter Kinder in Afrika vor sich. Mit aufgetriebenen Bäuchen und großen Augen. Hier liegt der Dichter ein bisschen daneben, aber vom Inhalt her ist das Gedicht zeitlos.
    Und große Augen bitten scheu
    Und blasse Lippen lächeln treu
    Vom Weh sie beben stets aufs neu
    Und flüstern: Hilf mir jetzt, nicht morgen!
    Ihr Nachbar hat jetzt seine Nordisk Tidskrift aus der Hand gelegt, beugt sich schamlos vor und liest mit. Sie sieht ihn mit einem, wie sie hofft, strafenden Blick an, aber das berührt ihn nicht.
    Er lächelt schmeichlerisch und flüstert: »Erbärmlich, was? Richtiger Kitsch. Aber Sie haben jetzt was Schönes in Arbeit, nicht wahr?«
    Da steht Lillemor auf, nimmt den Manuskriptpacken und verlässt den Raum. Sie ist überzeugt, dass er es nie gewagt hätte, das Gedicht erbärmlich zu nennen, hätte er nicht den Namen Carl David af Wirsén darunter gelesen. Jede Zeit hat ihre Übereinkünfte. Die Königliche Bibliothek wird in hundert Jahren noch stehen, und irgendjemand wird dann darüber feixen, was Lillemor Troj in ihrem Romanzyklus Kuckucksspeichel über die Armen geschrieben hat. Obwohl – wer sollte das sein? Sie ist sich nur einer Sache sicher, der des Vergessens. Es ist ein Wasserfall. Und wir stürzen hinab. Zu Wirséns Zeiten ist man sanfter gefallen.
    Sie weiß nicht, wohin sie gehen kann, um ihre Ruhe zu haben, und bleibt, nachdem sie aus den unterirdischen Regionen aufgetaucht ist, im Lesesaal an einem Fenster stehen und starrt hinaus auf den überdimensionierten Linné zwischen bereiften Dahlien. Aus dem Regal mit den Enzyklopädien hat sie ein Buch genommen und vor sich hingelegt. Es ist ein Lexikon von Aschehoug und Gyldendal, und als sie hinter sich Schritte hört, liest sie zerstreut ein paar Zeilen, um einen beschäftigten Eindruck zu machen. Dabei lernt sie, dass Airbag auf Norwegisch sikkerhetspute heißt.
    Ja, wer an dem Inhalt dieser Tasche zu tragen hat, dem kann ein sikkerhetspute nützlich sein. Es ist nicht gut, an der Fensterbank zu lehnen und die Bäume im Humlegården anzustarren, die zu einem kranken Graugrün verblasst sind. Angst ist Präsens, denkt sie und möchte wieder lesen, im Imperfekt verschwinden. Aber hier unter den Leuten kann sie das nicht. Wenn es nicht Angst ist, was sie empfindet, dann ist es zumindest Furcht. Ein ganz normaler, grundloser Angstanfall wäre dem vorzuziehen. Sich fallen lassen zu dürfen, ohnmächtig zu werden oder zu schreien.
    Um sie herum ist alles irrenhausgrün. Hatten nicht die Wände auf Station 57 genau diese Farbe? Sie weiß es nicht mehr, fürchtet aber, es bald zu erfahren, wenn sie weiterliest. Die Pfeiler mit ihren pseudokorinthischen
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