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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben
Autoren: Freda Wolff
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Dumpf klatschten Steine und Erdklumpen auf den Boden.
    Erst als er bereits direkt über ihnen stand, hörte Julia wieder sein Gebrüll und die wütenden Drohungen, die er ausstieß.
    »Ich kriege dich, du Schlampe! So wie ich deine Freundin gekriegt habe, so, wie sie alle dran glauben mussten, die gedacht haben, sie könnten mich wie Dreck behandeln. Es ist egal, wo du dich versteckst, ich finde dich! Und dann bringen wir das zu Ende, das schwöre ich dir! Du entkommst mir nicht, mach dir keine Hoffnungen!«
    Julia hielt den Atem an und lag wie starr. Er hatte sie noch nicht entdeckt, er brüllte nur ziellos gegen den Sturm an, vielleicht hatte er immer noch Mühe, richtig zu sehen, vielleicht war es auch der strömende Regen, der alle Konturen verwischte, aber wenn sie auch nur ein bisschen Glück hatte, würde er gleich wieder verschwinden, um sie irgendwo oben zwischen den Felsen zu suchen. Wenn sie beide ein bisschen Glück hatten, sie und Marie! Sie konnte nur inständig hoffen, dass Marie nicht ausgerechnet jetzt wieder vollständig zu sich kam und durch eine Bewegung auf sich aufmerksam machte.
    »Schsch«, flüsterte sie wieder beruhigend, als ein Erdklumpen dicht neben ihren Köpfen aufschlug. Weitere Erdklumpen prasselten auf sie herunter – er fing an, die Grube zuzuschütten!
    Alles in Julia schrie danach, aufzuspringen und zu versuchen, aus der Grube zu kommen, Marie mit sich zu zerren, zu fliehen, um nicht bei lebendigem Leib begraben zu werden. Eine Welle von Panik übermannte sie, sie hatte das Gefühl, schon jetzt keine Luft mehr zu bekommen, sie wusste, was passieren würde, wenn es zu einem erneuten Kampf kam, ihr Gegner war ihr nicht nur an Körperkraft überlegen, er war darauf aus, sie zu töten!
    Als ein Stein ihre Hüfte traf, schluchzte sie auf. Ihre Hand krallte sich in Maries Haare, dann ertasteten ihre Finger die klaffende Wunde am Hinterkopf, Marie wimmerte leise. Wieder wurde sie von einem Stein getroffen, Erde und Schlamm vermischten sich zu einem zähen Brei und verkleisterten ihr Gesicht …
    Und dann war da plötzlich nur noch der strömende Regen. Julia brauchte einen Moment, bis ihr Verstand die veränderte Situation erfasst hatte – das einzige Geräusch war das Wasser, das auf sie niederrauschte, aus Maries Haaren rann und den Dreck von ihrem Gesicht spülte. Ab und an klatschte wieder ein Erdklumpen in die Pfütze, in der sie lagen, sonst war nichts zu hören.
    Julia drehte ihren Kopf unter Marie hervor, steil ragte neben ihr die Grubenwand auf, darüber war nur der graue Himmel. Sie fasste Marie an der Schulter und schob sie behutsam zur Seite, bis sie sich unter ihrem Körper hervorwinden und aufrichten konnte. Fast rechnete sie noch damit, dass er irgendwo in der Nähe stehen würde und sie erneut in eine Falle getappt war, aber der Friedhof lag verlassen vor ihr, nur die Grabkreuze ragten wie verschwommene Schatten aus dem nebligen Dunst, der über der Wiese lag.
    Die dunkle Wolkenwand war über die Bucht hinweggezogen und stand jetzt über dem Festland, genauso schlagartig wie der Regen begonnen hatte, hörte er wieder auf. Auch der Wind hatte sich gelegt, eine Gruppe von Wildgänsen flog in strenger Formation aufs Meer hinaus, ihr aufgeregtes Schnattern klang wie ein Versprechen, dass alles gut werden würde.
    Erst als Julia sich mühsam aus der Grube herausgearbeitet hatte und sich zögernd aufrichtete, sah sie das Ruderboot. Erschrocken wollte sie sich gerade wieder auf den Boden werfen, als sie begriff, dass das Boot bereits ein ganzes Stück vom Ufer entfernt war – und sich weiter entfernte! Undeutlich konnte Julia die Gestalt ausmachen, die sich mit jedem Ruderschlag aufrichtete und wieder nach vorne schob, aufrichtete und nach vorne schob.
    Mit einem Schritt war Julia zurück an der Grube und ließ sich über die Kante nach unten rutschen. Marie hatte sich in der Zwischenzeit nicht bewegt, für einen schrecklichen Moment war Julia überzeugt, dass sie sich alles nur eingebildet hatte, dass Marie auch vorher schon nicht mehr am Leben gewesen war, erst als sie wieder den schwachen Puls ertastete, stieß sie erleichtert die Luft aus.
    Sie bemühte sich, Maries Gesicht nach oben zu drehen, ohne die Wunde am Hinterkopf zu berühren. Maries T-Shirt war dunkel vor Nässe und Blut, ihr Gesicht dagegen so bleich, dass es wie weiß geschminkt wirkte.
    »Marie!«, rief Julia leise, während sie ihrer Freundin mit zitternden Fingern über die Stirn strich, »hörst du mich?
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