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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben
Autoren: Freda Wolff
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Versuch gemacht hatte zu fliehen, wusste sie nicht. Es war, als hätte sie trotzdem noch die Hoffnung gehabt, dass sie sich täuschte. Als würde sie Marie im Stich lassen, wenn sie jetzt nicht bis zum Ende durchhielt. Idiotisch und wider besseres Wissen. Aber ohne dass Julia etwas dagegen hätte unternehmen können …
    Der erste Blick von der Klippe auf den Friedhof hinunter war noch einmal wie ein Schock gewesen. Danach hatte sie sich wie durch dichten Nebel getastet, ohne eigenen Willen, unfähig zu reagieren. Marie war tot, ermordet, in eine Grube geworfen, die auch Julias Grab werden würde.
    »Nein!«, hörte sie eine Stimme schreien. Erst als sie herumfuhr und sah, wie er überrascht einen Schritt zurückwich, wurde ihr klar, dass sie selbst geschrien hatte. »Nein!«, brach es noch einmal aus ihr heraus, du Schwein, wollte sie schreien, du perverser Dreckskerl, du Scheißtyp, aber kein Schimpfwort schien auch nur im Ansatz zu taugen, um ihn wirklich zu treffen, stattdessen hob sie die Fäuste und prügelte auf ihn ein, versuchte, sein Gesicht zu treffen, seinen Hals, ihn mit dem Knie im Schritt zu erwischen, aber er war größer und stärker als sie, sie hatte keine Chance gegen ihn. Fast mühelos schüttelte er sie ab und verpasste ihr einen Faustschlag auf das linke Ohr, der sie benommen zurücktaumeln ließ.
    »Hör auf«, sagte er ruhig, zu ruhig, als wäre er sich seiner Sache absolut sicher. »Je mehr du dich wehrst, umso schlimmer wird es.«
    Mit einem schnellen Griff drehte er Julia den Arm aufden Rücken. Als sie versuchte, nach seinem Schienbein zu treten, verstärkte er den Druck, so dass sie vor Schmerzen wimmernd in die Knie ging.
    »Lass es einfach geschehen«, hörte sie ihn dicht hinter sich keuchen, und wieder dachte sie eher unbewusst, dass er eine perverse Erregung dabei verspürte, sie zu quälen, »du weißt, dass du mir nicht mehr entkommst. Warum machst du es dir so schwer? In wenigen Minuten ist sowieso alles vorbei. Ich wollte es nicht, aber jetzt geht es nicht mehr anders, jetzt gibt es nur noch diese letzte Möglichkeit …«
    Seine Stimme hatte sich verändert. Als Julia den Kopf drehte, sah sie, dass er Tränen in den Augen hatte.
    »Ich versteh es nicht«, sagte sie leise. Sie musste Zeit gewinnen, auf irgendeine Weise zu ihm durchdringen, ihn zwingen, sie als Person wahrzunehmen und nicht nur als willenloses Opfer. »Erklär es mir, bitte! Das kannst du wenigstens noch tun, bevor du …« Sie brach mitten im Satz ab und versuchte, seinen Blick auf sich zu ziehen.
    Er lachte kurz auf. Es klang eher verzweifelt als spöttisch, auch wenn er sich gleich darauf bemühte, seine Selbstsicherheit wiederzufinden.
    »Was soll ich dir erklären? Warum du hier bist? Das weißt du doch selbst am besten! Warum du jetzt sterben musst? Denk nach, du bist clever genug, um alleine auf die Lösung zu kommen, du studierst, du hast Abitur, deine Mutter ist Psychologin, sie hat dir sicher oft genug erklärt, dass es Menschen gibt, die anders ticken, die nicht normal sind, die man besser in Heime sperrt, damit sie niemandem schaden können. So einfach ist das doch für Leute wie euch! Es wird nur schwierig, wenn irgendetwas schiefläuft, wenn da plötzlich keine Mauern und keine Gittermehr sind, die euch vor Typen wie mir schützen können. Wenn eure Regeln plötzlich nicht mehr gelten! Dann gerät eure kleine, ordentliche Welt ins Wanken, dann begreift ihr endlich mal, wie es ist, auf der falschen Seite zu stehen! Aber das habt ihr euch selbst zuzuschreiben, solche Leute wie du und deine Mutter, die immer denken, etwas Besseres zu sein!«
    Der Druck auf Julias Arm hatte ein wenig nachgelassen, zumindest konnte sie sich jetzt wieder aufrichten. Sie holte tief Luft und spürte, wie ihre Muskeln sich etwas entspannten. Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Sie versuchte, den Eindruck zu erwecken, dass sie über seine Sätze nachdachte.
    »Etwas stimmt nicht an dem, was du sagst«, erwiderte sie nach einem Moment und hoffte, dass sie nicht zu besserwisserisch klang.
    »Ist das so, tatsächlich, ja?«, fragte er höhnisch und beugte sich so weit vor, dass sein Gesicht fast ihre Wange streifte. Seine Augen waren immer noch wässrig, aber sein Blick hatte etwas Lauerndes. »Glaubst du, wir wären in der Uni und du hättest die Chance, mit mir zu diskutieren? Das ist genau das, was ich meine! Du kapierst es einfach nicht, deine Regeln gelten nicht mehr!«
    »Nein, ich will nicht mit dir diskutieren! Ich will
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