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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben
Autoren: Freda Wolff
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nur eine Antwort von dir. Was hatte Marie mit alldem zu tun? Warum sie? Du wolltest dich an meiner Mutter rächen, weil sie Psychologin ist und weil du … keinem Psychologen mehr traust oder so was, ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung, was du erlebt hast! Aber Marie …«
    Julia zuckte hilflos mit den Achseln. Ohne dass sie es wollte, fing sie an zu schluchzen. Aber sie hatte jetzt seinevolle Aufmerksamkeit, fast schien es, als würde er es genießen, ihr eine Erklärung zu liefern.
    »Sie hatte nichts damit zu tun, das stimmt. Aber dann hat sie versucht, mich zu manipulieren. Sie wollte mir zeigen, wie clever sie ist. Ich musste sie bestrafen, ich konnte sie nicht davonkommen lassen.«
    Er ließ Julias Arm los und stand auf. Als er ihr zunickte und die Hand hinstreckte, war es eine fast freundschaftliche Geste. Als wäre alles gesagt, was es zu sagen gab. Als wären sie sich einig über das, was jetzt folgen würde. Als gäbe es kein Zurück mehr.
    Julia wusste, dass der kurze Aufschub unwiderruflich vorüber war. Für einen Moment fühlte sie sich wieder wie gelähmt, dann griff sie nach seiner Hand und ließ sich hochziehen.
    »Stell dir vor, ich wäre dein großer Bruder«, sagte er unvermittelt. »Wir sind zum Baden ans Meer gefahren, nur wir beide, Bruder und Schwester. Wir haben ein bisschen geredet, über alles Mögliche, über den Job, der mir keinen Spaß mehr macht, über deine beste Freundin, mit der du dich vielleicht gerade gestritten hast. Du hast mir gut zugeredet, dass ich kündigen soll, weil der Job sowieso nicht der richtige für mich war, und ich habe dir erklärt, dass es so was wie eine beste Freundin nur in irgendwelchen Hollywoodfilmen gibt. Vielleicht hast du mir auch noch von dem Typen erzählt, mit dem du zurzeit zusammen bist, aber du weißt nicht, ob er wirklich der Richtige für dich ist, du bist auch nicht wirklich in ihn verliebt, vielleicht willst du sogar Schluss machen mit ihm! Und dann hast du geheult und ich habe dir den Arm um die Schultern gelegt und dich getröstet. Und ich habe den Satz gesagt, an den ich mich nochvon unserer Oma erinnern kann: Nur nicht aus Liebe weinen, es gibt auf Erden nicht nur den einen.«
    Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie dicht an sich. »Wir können uns alles erzählen, verstehst du. Und das ist ein gutes Gefühl. Wir vertrauen einander! Ich würde mein Leben für dich geben, so wie du deins für mich. – Aber plötzlich sehen wir Regenwolken über dem Meer aufziehen! Los, sag es! Sag: Verdammt, Aksel, jetzt haben wir so lange gequatscht und gar nicht gemerkt, dass das Wetter schlechter geworden ist!«
    Julia spürte, wie sich seine Hand an ihrer Schulter verkrampfte. Fast tonlos sagte sie: »Das Wetter wird schlechter.«
    »Und wir wollten doch noch baden gehen! – Los!«
    »Und wir wollten doch noch baden gehen …«
    »Dann müssen wir uns beeilen, Schwesterherz! Wir nehmen das Boot und rudern ein Stück raus. Und wenn der Regen uns erwischt, macht das gar nichts, dann werden wir eben doppelt nass. Wir können ja hinterher in die Hütte gehen und den Ofen anmachen. Und dann gibt es heißen Kakao und braunen Ziegenkäse, wie früher, als wir kleine Kinder waren! Los! Komm!«
    Er zog Julia an der Hand mit sich. Sie stolperte hinter ihm her, zwischen den schmiedeeisernen Grabkreuzen über die Wiese und bis zum Ufer. Als er sich am Ruderboot zu ihr umdrehte, wirkte sein Gesicht offen und … glücklich. Er war wieder ein kleiner Junge, und er freute sich darauf, mit seiner Schwester hinauszurudern, um im Meer zu baden.
    Er schien nicht für eine Sekunde daran zu zweifeln, dass Julia ihm auf das Boot folgen würde. Sie war für ihn nichtlänger Julia, die er entführt und deren Freundin er ermordet hatte, sondern seine kleine Schwester, die ihn bewunderte und ihm vertraute.
    Als er sich bückte, um das Tau zu lösen, zog Julia das Pfefferspray aus der Tasche ihrer Jeans. Sie legte ihm leicht die Hand auf den Arm, als wollte sie sich auf den glitschigen Steinen an ihm festhalten. Der Sprühstoß traf seine Augen aus weniger als zehn Zentimetern Entfernung. Für einen kurzen Moment zeigte sein Gesicht nichts als vollkommene Verblüffung. Erst dann fing er an zu schreien und riss abwehrend die Hände hoch.
    Julia sprang vor. Sie griff nach dem Ruder und schlug zu, bevor er zurückweichen konnte. Sie traf ihn genau an der Stirn. Er versuchte verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten, aber der Fels war zu glatt, er rutschte mit den
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