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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben
Autoren: Freda Wolff
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Füßen weg und kippte seitwärts ins Wasser.
    Als er wieder hochkam, brüllte er vor Schmerz und Wut. Der Schlag war nicht kräftig genug gewesen, um ihn bewusstlos zu machen, aber das Pfefferspray hatte seine Wirkung getan, er konnte nichts sehen und klammerte sich krampfhaft an den Rand des Ruderbootes. Als er das Gesicht ins Wasser tauchte, um den brennenden Schmerz zu lindern, hob Julia wieder das Ruder. Aber sie zitterte so stark, dass sie kaum zielen konnte. Gleichzeitig merkte sie, wie sich ihr Magen hob und eine Welle von Übelkeit in ihr aufstieg. Sie spuckte einen Schwall gelbliche Flüssigkeit auf die Felsen, dann ließ sie das Ruder fallen und rannte. Er brüllte etwas hinter ihr her, es war wie das Kampfgebrüll eines wilden Tieres, das jeden Moment zum Angriff übergehen wird.
    Julia wagte nicht zurückzublicken, ihre Gedanken überschlugensich. Sie hatte keine Vorstellung, wie lange die Wirkung des Pfeffersprays anhalten würde. Aber sowie er wieder sehen konnte, würde er sie verfolgen. Und sie kannte die Gegend nicht! Sie wusste nicht, von wo sie gekommen waren, im schlimmsten Fall würde sie im Kreis und ihm direkt in die Arme laufen. Sie musste sich irgendwo verstecken. Aber sie war sich sicher, dass er jede Felsspalte absuchen würde, jedes Gebüsch, jede Bodensenke. Sie hätte das Boot nehmen sollen, damit wäre es ein Leichtes gewesen, ihm zu entkommen! Aber die Chance hatte sie in ihrer Panik vertan, jetzt war es zu spät, um einen zweiten Versuch zu wagen. Er war bereits wieder aus dem Wasser, Julia konnte seinen Oberkörper hinter der Mauer ausmachen, noch hatte er die Hände auf die Augen gepresst, dann drehte er sich plötzlich mit zurückgelegtem Kopf im Kreis, als wollte er ihre Witterung aufnehmen.
    Julia stolperte über einen verwelkten Trauerkranz, den der Wind oder irgendein Tier von einer frischen Grabstelle gezerrt hatte. Im gleichen Moment schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: Maries Grab!
    Als sie an der offenen Grube stand, schloss sie kurz die Augen, ihr Atem ging heftig, das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie ließ sich auf die Knie nieder und tastete mit einem Fuß nach einem Halt an der senkrechten Wand. Fast sofort kam sie ins Rutschen, mit den Händen riss sie lose Erdbrocken mit sich, unsanft landete sie auf dem Boden, immer noch darauf bedacht, Maries Leichnam nicht zu nahe zu kommen.
    Aber sie musste damit rechnen, dass er tatsächlich die gleiche Idee wie sie hatte und dass er zumindest noch mal einen Blick in die Grube werfen würde! Sie musste also genaudas tun, wogegen sich alles in ihr sträubte. Sie musste Marie als Schutzschild benutzen, musste unter ihren toten Körper kriechen, um sich unsichtbar zu machen. Zum ersten Mal warf Julia einen zögernden Blick auf Maries Gesicht. Marie hatte die Augen geschlossen, wenigstens das.
    Zitternd und gegen ihre Übelkeit ankämpfend, ließ Julia sich zu Boden gleiten und schob sich neben Maries leblosen Körper. Es ist nicht Marie, sagte sie sich dabei immer wieder, es ist nur ihr Körper, der von alldem nichts mehr spürt …
    Dann kam das Schwierigste, Julia griff unter Maries Achselhöhlen und versuchte, den Leichnam über sich zu ziehen. Sie hatte sich vor der Berührung gefürchtet, mit kalten und steifen Gliedmaßen gerechnet, aber Maries Haut war so warm, dass sie jetzt unwillkürlich zurückzuckte.
    Gedämpft von den Wänden der Grube, hörte Julia wieder das Brüllen ihres Verfolgers. Und er kam näher, er musste bereits wieder auf dem Friedhof sein!
    Mit einer letzten Kraftanstrengung zog sie Maries Körper auf ihren, als Maries Kopf über ihre Brust rutschte und dicht an ihrem Hals zur Seite kippte, rann ein Speichelfaden aus ihrem Mund. Gleich darauf meinte Julia, einen Atemhauch auf ihrer Haut zu spüren. Sie tastete nach Maries Halsschlagader, bis sie ihren Puls fühlen konnte, schwach und unregelmäßig, aber ohne jeden Zweifel – Maries Herz schlug und pumpte das Blut durch ihre Adern, Marie lebte!
    Fast hätte Julia aufgeschrien, sie griff in Maries Haar und zog ihren Kopf höher, bis sie Wange an Wange lagen und sie jetzt deutlich jeden Atemzug spüren konnte. Maries Augen flackerten, ein leises Stöhnen kam aus ihrem Mund.»Schscht!«, machte Julia schnell und legte ihre Hand über Maries Lippen.
    Aus der Ferne war Donnergrollen zu hören, fast gleichzeitig setzte der Regen ein. Windböen peitschten über den Friedhof, schon nach wenigen Minuten rann das Wasser in Sturzbächen von den Grubenwänden.
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