Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schwere Wetter

Titel: Schwere Wetter
Autoren: Bruce Sterling
Vom Netzwerk:
mit steifem Nacken stundenlang in den schmalen
    Scheinwerferkegel hineinzustarren. Nachts sah man den freien Himmel. Den weiten, dunklen Himmel von Texas, diesen gewaltigen Abgrund.
    Und man hörte. Abgesehen vom stetigen Rauschen des Fahrtwinds war Charlie nahezu lautlos; da waren nur die Laufflächen aus Plastik, die sanft den Highway küßten, das reibungslose Dahingleiten auf Wellen aus Diamant. Jane hatte alles verklebt und festgezurrt, was am Wagen klappern konnte. Jane duldete es nicht, daß ihre Maschinen klapperten.
    Jane hörte, wie Alex gurgelnd atmete. Sie schaltete die Innenbeleuchtung ein und untersuchte ihren Bruder ein zweites Mal. Im schwachen, bernsteinfarbenen Schein der Lampe sah er sehr schlecht aus. Selbst in Topform war Alex kein attraktiver Mann; hager, hohlbrüstig, glubschäugig, mit einer messerscharfen Nase und geschickten, schmalen, klauenartigen Vogelhänden. Aber so elend hatte er noch nie ausgesehen. Alex hatte sich in ein abstoßendes Wesen, einen zusammengebrochenen kleinen Gnom verwandelt. Das verfilzte, blonde Haar stand ihm wirr zu Berge, außerdem stank er. Nicht bloß nach Schweiß - Jane war an Leute gewohnt, die nach Schweiß und Rauch stanken. Der Körper ihres Bruders verströmte einen schwachen, aber deutlich wahrnehmbaren Geruch nach irgendwelchen Chemikalien. Man hatte ihn mit Betäubungsmitteln mariniert.
    Sie berührte ihn an der Wange. Seine Haut war jetzt kühl und feucht, wie die Haut eines Tapioka-Puddings. In dem papierenen Rettungsoverall, den sie zwar frisch ausgepackt hatte, der aber bereits arg zerknüllt war, sah er aus wie ein Katastrophenopfer unter Schock, wie ein frisch geborgenes Unfallopfer. Wie jemand, der vollkommen auf die sofortige Hilfe anderer angewiesen war - was möglicherweise die eigenen Kräfte überstieg.
    Jane stellte das Radio an, hörte sich eine Menge kryptischer Verkehrshinweise von Straßenüberwachungsanlagen, Navigationssendern und Amateurfunkern an, und stellte es wieder ab. Komisch, was aus den ganzen Sendern geworden war. Sie schaltete die Musikanlage des Wagens ein. Darin war jedes einzelne Musikstück gespeichert, das ihr jemals etwas bedeutet hatte, einschließlich der Stücke aus ihrer frühen Kindheit, die zu löschen sie sich nie aufgerafft hatte. Trotz der digitalen Sechzehn-Bit-Präzision umfaßten ihre sämtlichen Aufnahmen lediglich ein paar hundert Megabyte, nur ein Klacks im unermeßlichen Speicher einer modernen Musikanlage.
    Jane spielte ein bißchen Thai-Pop ab, ein munteres, energiegeladenes Gedröhn und Geklimpere. Als sie noch Design studiert hatte, hatte ihr thailändische Popmusik viel bedeutet. Damals war es ihr so vorgekommen, als wären ein paar Dutzend wilde Kids in Bangkok die letzten Menschen auf Erden, die sich noch wirklich amüsieren konnten. Sie war nie dahintergekommen, warum sich dieser liebenswerte Ausbruch von Kreativität ausgerechnet in Bangkok ereignet hatte. Während sich Aids durch den riesigen menschlichen Körper von Asien fraß, war Bangkok sicherlich nicht besser dran gewesen als andere Orte. Offenbar waren die späten Zwanzigerjahre des zweiten Jahrtausends der Moment gewesen, da Bangkok weltweit geleuchtet hatte. Die Musik wirkte wahrhaft munter, sie war intelligent und klug, wie ein Geschenk an die Welt. Sie war so neu und frisch, und Jane hatte ihr zugehört und in den Knochen gespürt, was es hieß, eine Frau der 2020er zu sein, lebendig und hellwach.
    Mittlerweile schrieb man das Jahr 2031. Die Musik war jetzt fern, wie ein abgestandener Rest Reiswein am Boden einer leeren Flasche. Sie berührte Jane noch immer, aber nicht mehr ihr ganzes Wesen. Die neuen Teile berührte sie nicht.
     
    Als Alex erwachte, war es windig und dunkel. Eine schnelle, schmetternde Musik kroch ihm die Schienbeine hoch. Die Musik sickerte wie Sirup in seinen Schädel, und ihr Rhythmus trommelte ihn sanft wach. Mit dem Bewußtsein kam auch das Wiedererkennen; Popscheiße aus Thailand. Kein anderer Krach hatte diese exaltierte, hypnotisierende Eindringlichkeit.
    Alex wandte den Kopf - mit einem schmerzlosen Quietschen tief in der Halswirbelsäule - und erblickte ohne große Überraschung seine Schwester. Im trüben bernsteinfarbenen Schein einer Kartenleuchte saß Juanita auf dem Fahrersitz. Den Kopf hatte sie zurückgelegt, die Ellbogen auf die nackten, behaarten Knie gestützt, und sie mampfte Regierungsmüsli aus einer Papiertüte.
    Der Himmel über ihren Köpfen war ein riesiges schwarzes
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher