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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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Einführung erst mal genügen. Nun erzählen Sie mal, was Sie hierher getrieben hat …«
    »Es ist ein Job, nicht wahr?«
    »Der Verlag zahlt gut.«
    »Das ist nur einer der Gründe.«
    Der Redaktionsleiter nickte. »Sicher.« Er lehnte sich zurück. »Dann erzählen Sie mir wenigstens ein paar Sätze über sich selbst.«
    »Mir wär's lieber, wenn Sie Fragen stellen.«
    »Nun ja.« Michaelis zögerte. »Das können wir erledigen, wenn Sie sich entschlossen haben, bei uns zu bleiben. Vorerst beehren Sie uns bis übermorgen, richtig?«
    »Mein Flug geht am Donnerstag.«
    Michaelis blickte auf einen Kalender, der zwischen den Fenstern an der Wand hing. Er zeigte Dienstag, den 13. April. Der Redaktionsleiter nickte. »Das ist das, was Nawatzki mir am Telefon gesagt hat. Wissen Sie schon, wo Sie übernachten?«
    »Ich dachte, die Unterkunft wird …«
    »… gestellt?« Michaelis lachte. »Sicher wird sie das. Aber erwarten Sie um Himmels willen keinen Luxus. Der Verlag hat hier eine kleine Wohnung gemietet – übrigens von einem Halsabschneider aus dem Westen. Dort bringen wir für gewöhnlich unsere Gäste unter. Wenn mal welche kommen.«
    Carsten zuckte mit den Achseln. »Ich hab Schlimmeres überlebt.«
    »Warten Sie's ab. Aber ich will Ihnen Ihren Aufenthalt nicht schon im Voraus vermiesen. Sind Sie auf irgendeinem Gebiet besonders fit?«
    »Sie meinen, ob ich studiert habe?«
    »Nein, das interessiert mich nicht. Ich meine Dinge, die Sie gerne machen. Wir haben hier sehr viel Zeit und jede Menge Freiräume. Allzu viel passiert in diesem Kaff nicht. Deshalb möchte ich, dass meine Mitarbeiter sich wohl fühlen und das tun, was sie am liebsten und am besten machen.«
    Carsten nickte. »Ich hab früher ziemlich viele Wirtschaftsgeschichten gemacht.«
    »Wirtschaft gibt's hier nicht. Nur ein Sägewerk. Und ein paar Kneipen.«
    »Ich schätze, mit Gesellschaft sieht's ähnlich aus.«
    »Ganz richtig. Wir haben eine Kolumnistin, die den ganzen Tag dasitzt und die Hälfte der Leute erfindet, über die sie schreibt. Zumindest habe ich manchmal den Eindruck.«
    »Kultur?«
    »Schon besser. Nicht, dass Sie zu viel erwarten. Es gibt eine Reihe Holzschnitzer in Tiefental.«
    »Klingt verlockend.«
    »Nicht wahr? Im Ernst: Wenn Sie hierbleiben, können Sie das übernehmen. Wir haben ein kleines Theater, ein paar freischaffende Künstler, zwei Galerien …«
    »… und die Holzschnitzer.«
    »Genau. Es wird Ihnen bei uns gefallen.«
    »Stasi-Geschichten?«
    »Hat man Ihnen das im Verlag versprochen? Das war einmal. Das Thema ist abgegrast. Seit ungefähr zwei Jahren. Ja, damals …« Sein Blick richtete sich für einen Augenblick schwärmerisch in die Ferne. »Damals sind wir mit Fotografen von Tür zu Tür gezogen und haben die Leute abgeschossen. Ich schätze, wir hatten jeden einzelnen IM Tiefentals mit Foto im Blatt. Aber mittlerweile haben die Leute das Interesse verloren. Keiner will den Mist mehr hören. Aufschwung ist heute das Zauberwort. Rente, Wohngeld, Stütze. Immer wieder Kohle, Kohle, Kohle. Letztlich kann man das keinem verübeln. Ist zumindest auch der Grund, warum ich noch hier sitze.«
    »Das ist sehr ehrlich.«
    »Keiner zieht einfach so aus einem prächtigen Einfamilienhaus mit Hund und Garten in eine Zwei-Zimmer-Wohnung, heizt im Winter mit Kohle – echter, meine ich – und friert sich trotzdem wegen der undichten Fenster den Arsch ab. Devisen sind heute wie früher das Zauberwort. Nur dass jetzt keine Grenze mehr dazwischen liegt.«
    »Ich dachte, der Verlag würde zumindest vernünftige Wohnungen stellen?«
    »Der Verlag stellt Ihnen einen Wagen zur Verfügung, wirft Ihnen einen Berg Geld hinterher, schaut sehr großzügig über häufiges Fehlen wegen Krankheit hinweg und so weiter und so fort … Wie gesagt, die Wohnung zahlen sie Ihnen auch. Nur was für Wohnungen das sind – vergessen Sie's.«
    »Wirklich so schlimm?«
    »Dann wäre ich nicht mehr hier. Aber es ist verdammt nah an der Wahrheit. Haben Sie als Kind gerne Indianer gespielt? Ich meine, mit Zelt und Lagerfeuer?«
    »Klar.«
    »Sehen Sie, das ist das Gleiche. Man friert, findet morgens Ungeziefer im Schlafsack, isst schmutzige Beeren vom Strauch und schlägt das Zelt wahrscheinlich noch in Hundescheiße auf. Und trotzdem ist man überzeugt, dass man gerade das Abenteuer seines Lebens erlebt. Das hier ist nicht viel anders. Das Ganze hat etwas von diesen Überlebenstouren aus der Zigarettenwerbung.«
    »Wie
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