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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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seine Augen. Er konnte das Bein nicht bewegen. Seine rechte Körperhälfte schien in Flammen zu stehen. Gesplittert, dachte er nur, gesplittert.
    Sandra nahm ihm und sich selbst die Schlittschuhe ab, band jeweils zwei zusammen und hängte sie sich paarweise über die Schultern. Sie brach einen starken Ast von einem der umstehenden Bäume und begann, konzentriert und zielsicher wie ein ausgebildeter Sanitäter, den gebrochenen Knöchel zu schienen. Bein und Ast verknotete sie provisorisch mit der Schnur aus dem Bund seiner Jacke.
    Schließlich zog sie ihn erneut hoch, legte sich seinen linken Arm um die Schultern und stützte ihn wortlos auf dem gesamten Weg bis zum Zaun und, nachdem sie ihn durch die Öffnung geschoben hatte, auch den Rest der zwei Kilometer bis nach Hause. Der Schmerz in seinem Knöchel war so höllisch, dass er nichts tun konnte, als zu stöhnen und gegen die Tränen in seinen Augen zu kämpfen. Auf halbem Weg gab er auf. Er spürte, wie die Tränen heiß über seine eisigen Wangen liefen, aber da war ihm längst völlig egal, dass sie ihn weinen sah. Einmal, während sie anhielt, um für einen kurzen Moment zu verschnaufen, wischte sie mit ihren kühlen Fingern über sein Gesicht. Dann ließ sie zu, dass er sich von neuem auf ihre Schultern stützte, und brachte ihn sicher nach Hause.
    Während seine Tante loseilte, um am Telefon eines Nachbarn einen Arzt zu bestellen, saß Sandra gemeinsam mit seinen Eltern an seiner Seite. Irgendwann führte ihr Vater sie aus dem Raum. Carsten glaubte das Knallen einer Ohrfeige zu hören. Ihre Wange war feuerrot, als sie zu ihm zurückkehrte. Nicht eine einzige Träne funkelte in ihren Augen.
    Nach der Landung nahm er ein Taxi und nannte dem Fahrer sein Ziel. Tiefental, Redaktion des Harzboten.
    »Das ist ziemlich weit«, stellte der junge Mann finster fest. Carsten entdeckte in der Ablage eine Hand voll wissenschaftlicher Bücher. Biologie. Der Fahrer war Student.
    Das Fahrzeug verließ den Vorplatz und bog nach wenigen hundert Metern in eine Autobahnauffahrt. Missmutig drehte der Fahrer am Regler seines Radios, fand nichts, das ihm passte, und stellte das Gerät schließlich ab.
    Carsten hatte sich vor dem Abflug die Strecke auf einer Karte angesehen. Eine ziemliche Himmelfahrt über schmale Landstraßen. Er schätzte, dass sie in etwa eineinhalb Stunden ankommen würden, und fragte sich, ob es nicht günstiger gewesen wäre, gleich mit dem Auto von Frankfurt hierherzukommen.
    Die Autobahn endete bereits nach fünfzehn Minuten. Das Taxi holperte über eine endlose Straße aus Pflastersteinen und passierte dann das Ortsschild von Halle. »Wir müssen mitten durch die Stadt«, schimpfte der Fahrer. »Und das um diese Uhrzeit.« Carsten gab keine Antwort.
    Hinter der Stadt bogen sie auf eine Schnellstraße und fuhren hinaus aufs freie Land.
    Die Hügel waren überzogen von Raps, weitem, wogendem Gelb, das sich kniehoch im Wind bog. Sie fuhren vorbei an blühenden Kirschhainen, kamen durch winzige Dörfer und passierten gelegentlich ein einsames Bauernhaus, weit ab von der Straße und halb verborgen hinter den Baumreihen der Alleen. Berge und Hügelketten zogen an ihnen vorüber, leuchtend in verzaubertem Goldgrün. Vogelschwärme schwirrten am Himmel, und schneeweiße Wolkenburgen bedeckten das Land mit einem tanzenden Raster aus Licht und Schatten, Schatten und Licht.
    Schließlich verschwanden die Wiesen im Unterholz. Aus den vereinzelten Bauminseln wurde dichter, verwachsener Forst. Haushohe Fichten flankierten die Straße. Am Wegrand warteten gefällte Stämme auf ihren Abtransport. Knorrige Äste verwoben das Unterholz zu filzigem Dickicht und tauchten die Wälder in zähflüssige Finsternis. Die eben noch schnurgerade Straße schlängelte sich in engen Kurven zwischen Bergflanken und idyllischen Schluchten dahin. Eine Weile folgten sie dem Verlauf eines strudelnden Wildbachs.
    »Wir sind gleich da«, sagte der Fahrer.
    Das Taxi holperte über eine Brücke aus schweren Holzbohlen, folgte noch etwa zwei Kilometer dem Zickzack der engen Serpentinen und rollte schließlich einen steilen Hügel hinab. Vor Ihnen lag die Stadt, inmitten eines kleinen Tals, umgeben vom geheimnisvollen Schatten der Wälder.
    Carsten erkannte zwei kantige Kirchtürme, hoch und spitz, wie die Miniaturausgabe einer gotischen Kathedrale. Dunkle Ziegeldächer drängten sich eng aneinander, und gleich hinter dem Ortsschild passierten sie die Reste einer mächtigen Stadtmauer.
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