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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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sich in seinem Inneren zu verkriechen und abzuwarten. Wenn er die möglichen Gefahren und Schwächen dieses Ortes kennenlernen wollte, dann von außerhalb.
    Schon am zweiten Tag besserte sich das Wetter und bestätigte ihn in seiner Entscheidung. Selbst die Nächte wurden wärmer, und er musste den Reißverschluss seines Schlafsacks nicht mehr bis unters Kinn ziehen, um sich gegen Kälte, Regen und Sturm zu schützen.
    Das erste Reh war am Vormittag des vierten Tages aufgetaucht. Fenn hatte die Stunden bis zur Abenddämmerung damit verbracht, sein Wissen über die Tiere der umliegenden Wälder zu rekapitulieren. Arten, Aufkommen, Nahrung, Fortpflanzung. Alles, was dazugehörte. Am fünften Tag tat er das Gleiche mit den Pflanzen, und am sechsten, gestern, beging er im Geiste jeden einzelnen der Wege und Pfade im Umkreis von fünfzehn Kilometern. Trotzdem konnte noch so ungeheuer vieles schiefgehen. Alle Möglichkeiten durchzuspielen hätte mehr Zeit als die vergangenen sieben Tage in Anspruch genommen; sie hatten das viel früher bereits gemeinsam getan.
    Er sah auf seine Uhr und verglich die Anzeige in Gedanken mit ihrer Planung. Es war so weit.
    Fenn öffnete die Schnappverschlüsse seiner wasserdichten Ausrüstungskiste und entnahm ihr zwei volle Magazine für die Mauser in seinem Schulterhalfter. Beide steckte er in seine Brusttasche. Dazu kam ein Schnelllader für den 38er an seinem rechten Unterschenkel.
    Dann verließ er, zum ersten Mal seit einer Woche, seinen Posten. Selbst ihre Notdurft hatten er und seine Vorgänger in einer tiefen Grube verrichtet, nur wenige Schritte von der Hügelkuppe entfernt. Sie hatten Glück gehabt. Der Wind hatte meist in entgegengesetzter Richtung geweht.
    In blitzschnellem Zickzack jagte Fenn wie ein aufgeschrecktes Kaninchen über das Ödland. Sonnenlicht spiegelte sich im Glas der Aussichtskanzel. Dahinter war niemand zu sehen. Die Mauser im Anschlag warf er die Tür auf und sprang breitbeinig ins Innere. Tageslicht fiel in einen fensterlosen Raum. In seiner Mitte schraubte sich eine Wendeltreppe aus Metallgitter in die Höhe. Leer.
    Fenn bezweifelte nicht, dass der Turm verlassen war. Trotzdem musste er sicher sein, dass seit der letzten Durchsuchung vor einer Woche niemand eingedrungen war. Lautlos bewegte er sich zur Treppe und sah durch die Metallstufen hinauf. Oben, in der zweiten Etage, schimmerte helles Tageslicht. Das erste Stockwerk dämmerte im Schatten. Mit drei, vier schnellen Sätzen sprang er die Stufen hinauf, sah, dass die Zwischenetage leer war, und eilte weiter hinauf zur Kanzel. Ausatmen. Niemand da. Nur der Blick auf die endlosen Wälder und die dunkle Schlucht. So schnell er die Treppe hinaufgestürzt war, so zügig sprang er sie wieder hinunter. Es gab noch eine letzte Möglichkeit, die ein Gegner als Versteck hätte nutzen können.
    Die Falltür im Erdgeschoss war verschlossen. Fenn zog die Halskette mit dem Schlüssel hervor. Es hatte Wochen gedauert, diese Kopie zu beschaffen. Die alten Verbindungen arbeiteten nicht mehr wie früher.
    Das Schloss gab ein helles Geräusch von sich, als er den Schlüssel drehte. Klick. Der Mechanismus sprang auf. Mit einer blitzschnellen Bewegung warf er die Falltür in die Höhe. Polternd krachte sie nach hinten. Darunter Dunkelheit. Ein paar Stufen aus Stein, geradewegs in die Finsternis.
    Es gab einen Lichtschalter, oberhalb der Öffnung an der Innenwand des Turms. Fenn wagte nicht, ihn zu benutzen. Falls die Stromzufuhr noch funktionierte, würde der Knopfdruck irgendwo einen Zähler in Bewegung setzen. Das Risiko durfte er nicht eingehen. Statt dessen zog er den winzigen Taschenstrahler hervor, knipste ihn an und leuchtete in die Tiefe. Kein Mensch war zu sehen, nur Staub auf den Stufen. Unberührter Staub.
    Fenn setzte langsam einen Fuß vor den anderen, alle Sinne alarmiert. Eine Stufe, die zweite, dann die dritte. Ein erster Blick in den Kellerraum.
    Nichts.
    Weiter, tiefer.
    Er erreichte den Boden des Raums und leuchtete im Kreis. Ein trockenes, aus dem Fels gehauenes Loch, wie eine Gruft. Sechs Schritte im Quadrat, knapp zwei Meter hoch. Völlig leer. Er hatte Ratten erwartet, doch nicht einmal die hatten den Weg hierher gefunden. Zum ersten Mal seit Betreten des Turms erlaubte Fenn sich ein erleichtertes Seufzen.
    Er stieg die Treppe hinauf und ging zügig zurück zu seinem Beobachtungspunkt. Dort nahm er das Funkgerät aus der Kiste und überprüfte den Kanal. Er drückte einen Knopf.
    Irgendwo, viele
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