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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst
Autoren: Roel Verschueren
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ging nicht ran.
    »Gute Nacht, ihr lieben Frauen.«
    Er nahm eine Dusche, zog bequeme Klamotten an, fand im kleinen Weinkeller noch eine Flasche billigen Rotwein und ging zum Arbeitszimmer seines Vaters. Der Bücherschrank füllte die gesamte Wand an der Südseite aus. Er schaltete mehr Licht an und öffnete die erste Glastür.
    Nach einer Stunde hatte er ungefähr dreißig Bücher auf den Schreibtisch gelegt. Er nahm im Ledersessel Platz, in dem er seinen Vater immer sitzen gesehen hatte, und blätterte ein Buch nach dem anderen durch. Er nahm den dritten Band einer Reihe über den Zweiten Weltkrieg in die Hand und schüttelte die Seiten locker. Wie eine Feder schwebte ein hauchdünnes Blatt auf den Holzboden.
    Victor öffnete das gefaltete Blatt vorsichtig und sah einen handgeschriebenen Text, wie von Schülerhand reinlich aufgereihte Sätze, die sich mühsam an den blauen Linien festklammerten, ohne jegliche Korrektur. Victor erkannte die Handschrift sofort. Das Papier war ausgeblichen, grau mit alten Falten, aber ansonsten unversehrt.
    30. März 1942
    Ich stehe an diesem kalten Morgen mit Sack und Pack auf dem Bahnhof von Antwerpen. Wir sind mit ungefähr 120 Gleichgesinnten in Dreierreihen hierher marschiert. Uns wurde nachgewinkt, als wären wir schon Helden, mit Fanfaren und Flaggen. Ich sehe zig Mütter und junge Frauen mit einem Taschentuch in der Hand und Verzweiflung in ihren Gesichtern über die plötzliche Entscheidung ihrer Söhne und Lieben, nach Orten aufzubrechen, von denen sie keine Vorstellung haben. Sie wissen nur eins: Besser als zu Hause kann es dort auch nicht sein. Männer mit aufrüttelnden Stimmen reden auf uns ein. Es sind dieselben Männer, die uns überzeugt haben, aufzubrechen. Sie selber werden nicht in diesen Zug steigen, sondern zurückbleiben, um noch viele weitere junge Männer zu überzeugen. Wir werden mit Weihwasser besprenkelt, das wie Tränen am Fenster hinabgleitet.
    Martha müsste inzwischen meine Nachricht erhalten haben. Ich habe einen guten Freund gebeten, ihr den Zettel erst kurz vor der Abfahrt des Zuges zu übergeben. Ich kann ihr die Neuigkeit nicht selbst mitteilen. Ich habe ihr geschrieben, dass ich es für Gott, Vaterland und die Nachwelt tun müsse. Ich liebe sie sehr, aber ich möchte keinen Abschied nehmen. Es hat auch keinen Sinn. Ich sehe ja, dass der Abschied nur Tränen bringt, nicht nur Kummer, sondern tiefste Verzweiflung.
    Jeder von uns hat aus eigenen Gründen alles zurückgelassen und sucht nach seiner Bestimmung. Wir dürfen einer Zukunft in Unterwerfung für unsere Heimat keine Chance geben. Wir dürfen die Unterdrückung unserer schönen Sprache nicht länger hinnehmen. Wir müssen dem herannahenden Bolschewismus Einhalt gebieten. Wir fühlen uns verpflichtet vor der Kirche und gestärkt durch unseren Glauben. Unser Aufbruch ist für die Zukunft und die Unabhängigkeit unseres Flandern die beste Lösung.
    Die Reise wird lang. Neunzehn Stunden Fahrt, und dann fängt alles für uns an. Ich werde Deutschland und Österreich langsam vorbeiziehen sehen und schließlich in Graz ankommen. Es soll eine schöne Stadt sein und ich werde von dort weiter berichten.
    Wir können es kaum erwarten, bis …
    Victor drehte das Blatt um, aber da stand nichts. Er lehnte sich im Sessel zurück, legte beide Füße auf den Schreibtisch und las den Text noch dreimal durch. Er fing an, alle Bücher auszuschütteln. Er suchte unter den Innenklappen der Umschläge, suchte nach Notizen oder Hinweisen, fand aber weiter nichts. Er nahm den Brief mit, knipste die Lampen aus und ging ins Bett.
    »Ich habe Kaffee gemacht«, sagte Martha, als er kurz nach acht am nächsten Morgen in die Küche kam. Er war ungewaschen und unrasiert, lief barfuß herum und öffnete das Fenster, das zum Garten führte.
    »Danke. Was dagegen, wenn ich etwas frische Luft reinlasse?«
    »Pass auf, dass keine Katzen hereinkommen. Ich hasse Katzen und sie schleichen sich ins Haus, ohne dass man es mitkriegt.«
    »Für jemanden, der Katzen nicht mag, hast du aber ziemlich viele Schüsseln mit Milch draußen stehen.«
    »Nur weil ich ihnen zu essen gebe, heißt das noch lange nicht, dass ich sie adoptiere und ins Haus lasse. Hast du gut geschlafen? Warst du noch lange auf? Hast du Lilly noch erreichen können?«
    »Immer langsam, Oma. Ich brauche morgens etwas Zeit.«
    »Möchtest du Eier, Speck, Marmelade, Käse?«
    »Ich trinke morgens nur Kaffee. Gerne stark.«
    »Er ist heute extra stark.« Seine Mutter
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