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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Autoren: Sergej Lochthofen
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Genossen in Moskau haben ihm wieder einmal erklärt, wie es in Deutschland wirklich aussieht. Du kennst sie ja. Die wissen schon aus Prinzip alles besser. Dabei ist die Lage beschissen. Und das ist noch geprahlt. Die Weisheit der Moskauer Genossen verkraftet man nicht jeden Tag. Glaub mir, mit dir hat seine Laune nichts zu tun.»
    Wolf fand Interesse an dem jungen Mann aus dem Pott, vor allem weil er wusste, dass Lorenz nach dem Studium bei der Zeitung in Engels anfangen sollte. Er konnte einen Getreuen in der Redaktion gut brauchen. Schließlich war das Theater an der Wolga einer der Hauptabnehmer seiner Stücke. Später gingen der Schriftsteller und der frischbestellte Redakteur auf ausgedehnte Reportagereisen. Lorenz hatte zwei wichtige Vorzüge: Er konnte Russisch, und er konnte noch besser die Klappe halten. Denn neben den jungen Schauspielerinnen förderte Wolf gerne auch die jungen Kolchosbäuerinnen. Lorenz sollte es recht sein. Alles, was die Bande zwischen Friedrich und Lotte schwächte, kam ihm gelegen. Es war kein Zufall, dass, wann immer sie in einer Kolchose abstiegen, um das Heldenepos der Arbeit zu singen, Lorenz beim Kolchosvorsitzenden und Wolf im Wohnheim für ledige Bäuerinnen nächtigte. Während die Frau des Kolchos-Chefs den Redakteur mit Piroggen mästete, wurde Wolf anderweitig verwöhnt. Das hieß dann bei den beiden Reisenden: den Kolchosbäuerinnen die Beschlüsse der Komintern erklären. Manchmal dauerte so ein Seminar Tage.
    So kam es, dass Lorenz nicht nur die Literaten und die Regisseure, sondern das gesamte Ensemble des Theaters, einschließlich der Musiker, zu seinem erweiterten Bekanntenkreis zählte. Sie alle gehörten zur örtlichen Intelligenzija, von der es in einem Provinznest wie Engels nicht all zu viel gab. Jemanden aus dieser Welt in einer schmutzigen, stickigen Zelle wiederzutreffen, das schien unwirklich und eine Erleichterung zugleich. Er war also nicht allein.
    «Haben Sie keine Angst, Lorenz Lorenzowitsch», der Dirigent lächelte dem Neuen zu, «das sind keine Urki. Wie überhaupt in dieser Zelle keine Kriminellen sitzen. Ausnahmslos Politische. Und das Theater bei Ihrem Einzug ins Schloss, das müssen Sie schon verstehen, ist eine reine Vorsichtsmaßnahme gegen ungebetene Gäste. Sie können es sich ja vorstellen, die kennen nur eine Sprache.» Er deutete mit der flachen Hand auf seinen Hals.
    Plötzlich sah Lorenz lauter freundliche Gesichter um sich. Selbst der Dicke, der gerade noch martialisch in seine Richtung vorgerückt war, nickte freundlich. Der Dirigent fing seinen immer noch skeptischen Blick auf.
    «Glauben Sie mir, Lorenz, Anton tut keiner Fliege etwas. Im Gegenteil. Normalerweise ist er Mediziner, hier, im städtischen Krankenhaus. Oder sagen wir es genauer, er war es bis vor kurzem. Bis zu seiner Verhaftung. So wie ich noch vergangene Woche Orchesterleiter war …»
    Er schluckte, für einen Moment schien er die Fassung zu verlieren, aber dann fuhr er in abgeklärtem Ton fort:
    «Wir haben beschlossen, dass er am überzeugendsten einen Verbrecher geben kann. Natürlich ist die Geschichte, die er vorhin aufgetischt hat, frei erfunden. Seien Sie sicher, er hat keinen aufgeschlitzt. Hauptsache, so ein Ganove, falls er sich denn in unsere Herberge verirrt, hat gleich die Hosen voll. Verstehen Sie?»
    «Aber warum sitzen die hier alle halbnackt? Gehört das auch zur Maskerade?»
    «Nein, nein. Das ist echt. Die vielen Menschen auf so engem Raum heizen auch ohne Ofen. Sie werden es schon merken, Lorenz Lorenzowitsch, es wird hier sehr warm. Wenn Sie so wollen: ein animalisches Kraftwerk.»
    Die Erklärung schien überzeugend, dennoch blieb Lorenz vorsichtig. Vielleicht waren unter den Insassen doch Kriminelle. Von zwanzig Leuten konnten nicht alle unschuldig sein. Unmöglich.
    Der Dirigent sah sein Misstrauen.
    «Nu, so ist es richtig. Bleiben Sie wachsam. Die Feinde lauern überall.» Er neigte sich mit verschwörerischer Miene zu Lorenz.
    «Sie wissen doch, der Klassenkampf, der spitzt sich immer mehr zu. Von Tag zu Tag. Wo der Genosse Stalin recht hat, hat er recht. Er tut ja auch nach Kräften etwas dafür. So gesehen, sollten Sie Ihre Verhaftung nicht persönlich nehmen. Die große Geschichte spaziert gerade durch Ihr Leben. Wo gibt es so etwas sonst noch? Kostenlos? Aber glauben Sie mir, in ein paar Tagen sind Sie schlauer. Uns allen ging es so oder so ähnlich.»
    Die Männer hatten sich wieder auf ihre Plätze gesetzt, sie wollten nun Neuigkeiten
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