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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Autoren: Sergej Lochthofen
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südlich von Engels, auf der Wiesenseite der Wolga, nicht besiegen. Wie hätte er das auch schaffen können? Die Bauern hielten seine Hygienevorschriften für neunmalkluges Gerede. Solch dummes Zeug konnte nur einem Städter einfallen. Es begab sich, dass er eine Horde von ihnen im Stall mit einer Flasche Selbstgebranntem erwischte. Ein schmächtiges Kerlchen in verdreckter Wattejacke schwang gerade eine große Rede: «Schau an, die Obrigkeit hat sich einen Viehdoktor zugelegt», kam es aus dem zahnlosen Mund. «Extra für die Rindviecher. Und, was hat’s genutzt? Sie sterben wie die Fliegen. War früher so, wird auch so bleiben …» Der Tierarzt schmiss die Schnapsflasche an die Wand und jagte die Bande hinaus an die Arbeit. Die Säufer revanchierten sich mit einem Wink an den NKWD. Der Rest war Routine.
    «Grischa, ich weiß, dass du mich hörst», der Tierarzt suchte den Blick des Lehrers.
    «Grischa, glaube mir, mit deinem Schrieb wird sich der Gefängnisdirektor, auf dessen Tisch das Ding mit Sicherheit landet, nicht einmal den Hintern abwischen. Im Gegensatz zur Zeitung ist das Papier zu glatt. Man reibt sich nur den Arsch wund. Und weiter, Brüderchen, das kannst du mir glauben, kommt dein Brief nicht. Die fischen alles raus. Jeden Zettel, verstehst du?»
    Der Lehrer schaute traurig auf. Für einen Moment schien er zu überlegen, ob es Sinn hätte, alle Hoffnung in das Stückchen Papier zu stecken. Dann sah er wieder auf sein kariertes Blatt, auf die einzige Zeile, die ganz oben am Rand stand, und flüsterte die drei Worte:
    «Hochverehrter Genosse Stalin!»
    Allein über die Anrede und das Ausrufungszeichen hatte er zwei Tage nachgedacht. Wie spricht man solch eine bedeutende Persönlichkeit an? In der Schule lernt man das nicht. Genosse Stalin ist ja nicht die Schwiegermutter. Der kannst du schreiben: «Liebe Darja Iwanowna, Dein Paket mit den Wollsocken und der Kirschkonfitüre ist angekommen. Leider erwies sich das Glas als nicht ganz dicht …»
    Es ist ja auch kein Antrag an den Stadtsowjet, in dem man den Vorsitzenden um ein etwas geräumigeres Zimmer für seine fünfköpfige Familie bittet. Solange die Kinder klein waren, ging es ja noch. Aber jetzt? Sechzehn Quadratmeter sind wirklich nicht viel. Daneben residiert die Witwe des Buchhalters Pankin und denkt nicht daran, sich etwas zu bescheiden. Pankin ist gestorben, dem standen sicherlich zwanzig zu. Aber doch nicht der Witwe …
    Vielleicht «Teuerster»? Geht auch nicht. «Teuerster» ist zu familiär. Das kann er seinem Vetter auf dem Lande schreiben, wenn er ihn bittet, aus dem Garten der Großeltern von den Antonowka-Äpfeln etwas zu schicken. Aber für den großen Führer, nein, für den ist das nichts. Also «Hochverehrter Genosse Stalin». Erst hatte er danach ein Ausrufungszeichen gesetzt. Aber das sah ganz unmöglich aus. Ein Ausrufezeichen war das Mindeste, etwas für einen normal Sterblichen. Aber dieser Brief ging an Stalin. An STALIN! Er setzte noch eins dazu. Das sah schon deutlich besser aus. Auch die Großbuchstaben. Ja, STALIN konnte man eigentlich nur in Großbuchstaben schreiben. Kleine Buchstaben waren etwas für kleine Leute. Aber er schrieb an den großen STALIN. Was wäre mit einem dritten Ausrufezeichen? Die Kirche hatte es ja nicht umsonst mit der Drei … . Vater, Sohn und dann noch der Heilige Geist. Ist der Genosse STALIN etwa weniger?
    Grigori Maximowitsch seufzte tief. Die Anrede war schon schwer genug, wie sollte da der erste Satz gelingen? Und auf den kam es an. Der entschied alles. Sicher lag es an dem falschen ersten Satz, dass all seine anderen Briefe ohne Antwort geblieben waren. Wenn der große Lenker, der sich täglich um die Geschicke der ganzen Welt, um den Aufbau des Kommunismus, um das Ausmerzen der Feinde der Arbeiterklasse kümmerte, den Brief auf seinem Schreibtisch vorfand, dann musste der erste Satz klar und deutlich sein. Er musste alles Wesentliche beinhalten. Nach diesem Satz musste Genosse STALIN zum Telefonhörer greifen und sagen:
    «Genossin Telefonistka, verbinden Sie mich mit Engels, dem örtlichen NKWD-Gefängnis, dem Oberst Bulka! Ja, ja, sofort! Ahh, da sind Sie ja … .
    Der Schreiber blickte durch den Tierarzt hindurch zum Fenster, als sei von dort Hilfe zu erwarten. Da wusste der Veterinär, jedes weitere Wort war sinnlos.
    Unter anderen Umständen hätte Lorenz die Geschichte brennend interessiert. Aber jetzt hörte er die Wortfetzen wie durch einen Nebelschleier, weit in der
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