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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Autoren: Sergej Lochthofen
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Sozialismus in der Arktis» zu sprechen, fanden Jahrzehnte später in Bad Liebenstein Worte für ihre Erlebnisse. In dem kleinen Kurort im Thüringer Wald verbrachte mein Vater von Krankheit gezeichnet die letzten Jahre seines Lebens, und immer wieder waren hier Weggefährten, Überlebende «von dort» zu Gast.
    «Schwarzes Eis» ist eine Erinnerung an das große Experiment, das 1917 begann und siebzig Jahre später im völligen Zusammenbruch endete. Es ist eine Geschichte aus einem Jahrhundert voller Aufbruch und Hoffnung, aber auch voller Willkür, Grausamkeit und Blut. Es ist die Geschichte meiner Familie.

Das Jahr 1937:

    Kleines Foto: Lorenz Lochthofen 1931 bei Montagearbeiten im Donbass.
    Größeres Foto: Lorenz Lochthofen 1934 als Student in Moskau.

Der russische Revolutionär Leo Trotzki, ausgewiesen aus der Sowjetunion, der Türkei, Frankreich und Norwegen, trifft in Mexiko ein. Franklin D. Roosevelt tritt seine zweite Amtszeit als US-Präsident an. Das deutsche Flugzeuggeschwader «Condor» zerstört in einem dreistündigen Bombenangriff Guernica. Auf der Grundlage des NKWD-Befehls Nummer 00439 werden 40   000 Deutschstämmige in der UdSSR wegen angeblicher Spionage erschossen. Nach einem Scheinprozess wird die russische Militärspitze exekutiert. In München öffnet die Propagandaausstellung «Entartete Kunst», auf der Werke von verfemten Künstlern gezeigt werden. Hitler offeriert der Wehrmachtsführung seine Annexionspläne für Österreich und die Tschechoslowakei. Japanische Truppen verüben das Massaker von Nanking, bei dem mehr als 200   000 Chinesen sterben.

1937

I
    Sie rannten und lachten, und die dicken, warmen Regentropfen prasselten auf ihre Gesichter. Er hatte die Kleine, eingewickelt in seine Jacke, an die Brust gedrückt, während Lotte und Lena tanzend durch die Pfützen hüpften. Hinter ihnen, hoch über den Baumkronen, rumorte und donnerte es in den aufgetürmten Wolken, überstrahlt von einer Sonne, die keinen Zweifel ließ, dass sie den Unfug im Himmel nicht lange dulden würde. Es roch nach frischgeschnittenem Buchsbaum, nach Holunder und Jasmin. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein. In einem besonders schönen Augenblick. Doch das Licht verlor an Kraft, das Donnern schwoll an, bekam einen seltsamen Klang. Wurde lauter und lauter. Plötzlich war es so nahe, als schlüge jemand direkt in seinem Kopf mit einem Stock auf einen Blecheimer.
    Bomm. Bomm. Bomm.
    Lorenz wachte auf. Das schwache Sperrholz der Wohnungstür schien zu splittern.
    Bomm. Bomm. Bomm.
    Das eine war nur ein Traum. Das andere die Wirklichkeit. Er warf die Wattedecke zurück, sprang aus dem Bett, streifte in der Dunkelheit die Hose über. Wieder und wieder donnerte es an die Tür.
    Sie kommen.
    Sie kommen.
    Sie holen dich.
    Etwas anderes konnte er nicht denken. Er wollte es wegschieben. Unsinn, einem Mann wie ihm würden sie nichts tun, würden es nicht wagen. Doch im Grunde seines Herzens wusste er es: Sie holen dich ab. Erst hatten sie Lorenz die Arbeit genommen. Dann aus der Partei ausgeschlossen. Nun kamen sie. Nun holten sie ihn.
    Vorsichtig hob er den Vorhang am Fenster. Die Straße war tief in das Schwarz der Nacht versunken. Nur zwei Lichtkegel eines Autos stachen schmale Streifen aus der Dunkelheit. Die Umrisse eines Kastenaufbaus hinter dem Fahrerhaus ließen keinen Zweifel: ein «Schwarzer Rabe». So hieß in Russland seit jeher der vergitterte Wagen, mit dem die Arrestanten abgeholt wurden. Das war unter der «Ochranka» so, der zaristischen Geheimpolizei, das war unter Stalins NKWD nicht anders. Wo immer das Auto des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten auftauchte, verbreitete es Schrecken. In der Nacht war es der Rabe, am Tag ein Lastwagen mit der harmlosen Aufschrift «Brot» oder «Fleisch». Obwohl es schon lange nicht mehr genug Fleisch gab, das man ausfahren musste. Statt «Chleb» oder «Mjaso» hatte das fensterlose Gefährt Menschen geladen.
    Lorenz ließ den Vorhang fallen. Er hatte diesen Moment immer und immer wieder im Kopf durchgespielt: Er ist gerade auf dem Weg in die Redaktion, da hält eine Limousine neben ihm, zwei biedere Herren in leicht zerknitterten Anzügen bitten ihn, doch einzusteigen. Oder: Er eilt nach einem Gespräch aus dem Stadtkomitee durch das Tor, froh, endlich dem ausschweifenden Gerede entronnen zu sein, da ruft ihn der Pförtner zurück. Und drinnen warten schon zwei Bewaffnete. Oder: Er steigt beschwingt aus dem Moskauer Zug, sieht Lotte mit den
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