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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Autoren: Sergej Lochthofen
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beiden Mädchen auf dem Bahnsteig, sie rufen und winken ihm zu, da möchte jemand in Uniform seine Fahrkarte sehen. Nur der Ordnung halber. Und während er nach dem Papier in seiner Tasche kramt, herrscht ihn der Milizionär an mitzukommen …
    In vielen langen Nächten hatte er sich die Szenen wieder und wieder ausgemalt. Nachdem sie ihn aus der Redaktion der «Nachrichten» entlassen hatten, war es nur noch eine Frage der Zeit. Er wusste es. Natürlich wusste er es. Sein Verstand sagte es ihm, aber glauben, nein, glauben konnte er es nicht. Warum sollten sie ihn verhaften? Ausgerechnet ihn? Einen deutschen Emigranten, der dieses Land mit Händen und Klauen gegen jeden Angriff verteidigt hätte, der dieses Land liebte. Ein Land, in dem jetzt unfassbare Dinge geschahen. Menschen verschwanden, Freunde wurden verhaftet, Familien auseinandergerissen. Ohne Grund. Keine Erklärung. Kein Sinn. Nie im Leben hätte er gedacht, dass so etwas möglich sei. Nun wusste er es. Er glaubte, vorbereitet zu sein. Doch jetzt, wo es laut und drängend an der Tür hämmerte, packte ihn Entsetzen.
    Die Schwere im Kopf war verflogen. Er hatte am Abend zuvor ganz gegen seine Gewohnheit zu viel und vor allem durcheinandergetrunken. Wodka. Portwein. Sekt. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, darauf noch einige Gläschen Selbstgebrannten, «Samogon». Man wird eben nicht jeden Tag dreißig. Für einen Augenblick sah er sich, Lotte und Friedrich in der Tür des winzigen Zimmers stehen. Die letzten Gäste waren weit nach Mitternacht gegangen. Ihr lautes Gackern klang durch das offene Fenster noch lange in der von friedlichen Gärten gesäumten Straße. Es war ein ausgelassenes Fest in Lottes Häuschen. Die Kinder hatte es nicht gestört, Lena und Larissa schliefen friedlich. Lena mit ihren vier Jahren, eigensinnig und mit einem unüberhörbaren Hang zum Altklugen, Larissa gerade sechs Monate alt, noch ein wehrloses Bündel.
    Sie standen da und lächelten verlegen. Lotte, umrahmt von ihrem Exgeliebten und ihrem Exmann. Das hatte schon seine Komik. Und wenn der Geliebte genauso ex war wie der Ehemann, ließ das viel Raum für Deutungen. Vor allem aber für fürchterliche Szenen. Lotte war die Frau, die Lorenz immer noch liebte. Klug, schön, zart und stark. War er ihretwegen oder sie seinetwegen oder aus ganz anderen Gründen nach Engels gegangen? So genau ließ sich das nicht mehr rekonstruieren. War auch nicht so wichtig, solange sie nebeneinander lagen, sich in den Armen hielten, das reichte. Das hätte für ein ganzes Leben reichen können, seine Liebe auf jeden Fall.
    Aber so einfach war es nicht. Da gab es ein Leben davor, und in diesem Leben spielte sein Freund Friedrich Wolf die entscheidende Rolle. Der Autor von «Professor Mamlock» und «Zyankali», diesen bekannten Mann liebte auch seine Frau. Früher, vor seiner Zeit. Lotte und Friedrich kannten sich aus Stuttgart. Die Studentin war am Anfang nur die Pionierleiterin seiner Söhne Markus und Konrad, später auch Freundin der Familie. Was Friedrich wörtlich nahm: Lotte wurde schwanger.
    Als die Nazis an die Macht kamen, flohen sie gemeinsam durch halb Europa bis nach Moskau. Auf dieser Reise kam in der Schweiz die Tochter von Lotte und Friedrich Wolf zur Welt. Lena. Entbehrung und Wirren der Flucht ließen zunächst keinen Raum für eifersüchtige Ränke. Später in Moskau wurde es schwieriger: eine Zwei-Hotelzimmer-Wohnung für Geliebte samt Tochter plus Ehefrau und die gemeinsamen Söhne plus Familienoberhaupt. Ein reichlich ungewöhnlicher Zustand, im prüden Moskau der dreißiger Jahre. Doch der Schriftsteller brauchte für seinen politischen Kampf die nötige Inspiration, er brauchte Muse und Ehefrau. Das verstanden selbst die sowjetischen Genossen.
    Und Lotte gab eine prächtige Muse. Ihr Foto, blond, voller Lebenslust, zierte eines Tages die Titelseite des «Stürmers». Als Sinnbild deutscher Weiblichkeit. Da war sie längst nach Moskau emigriert und hatte mit dem Juden Wolf ein Kind. Doch was auf den muffigen Gängen des Hotels «Lux», in dem sich die Oberschicht der politischen Emigranten einquartiert hatte, als amüsant erschien, entwickelte sich im Leben zur Hölle. Irgendwann hielt es Lotte nicht mehr aus. Sie wollte weg, am liebsten an eine Universität. Doch in Moskau schien das unmöglich. Von Lenins Frau erhielt sie schließlich Order, nach Engels zu gehen, dort, in der Wolgadeutschen Republik, könne sie Pädagogik studieren oder irgendetwas mit Kunst,
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