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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Autoren: Sergej Lochthofen
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Nazi-Fahndungslisten und Aufzeichnungen deutscher Emigranten aus dem sowjetischen Exil überprüft. Darunter die Tagebücher von Herbert Wehner.
    Das pathologische Misstrauen des Geheimdienstes hat seine Ursache in einer falschen Zeile in einem Standardwerk des Mannheimer Historikers Hermann Weber, wo es im letzten Satz der Kurzbiographie von Lorenz Lochthofen heißt: «Zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt, kam im Lager ums Leben.»
    Die fünf letzten Worte versetzen den MfS-Mitarbeiter in Erregung. Doch weit kommt er mit seinen Recherchen nicht. Denn nur wenige Wochen später hat die Stasi ganz andere Sorgen, es geht um ihre eigene Existenz.
    Mein Vater hat den Wende-Herbst nicht erlebt. Über seinen Kommentar kann man nur spekulieren. Doch an seiner Grundüberzeugung hätte auch das Ende des sozialistischen Experiments nichts geändert: Nach der doppelten Katastrophe der ersten Jahrhunderthälfte, nach Terror und Krieg, musste neu begonnen werden. Vor die Wahl gestellt, in der Sowjetunion zu bleiben oder zurück ins Ruhrgebiet zu gehen, entschied er sich für die DDR. Doch mit Bitterkeit musste er im Alter feststellen, Stalins Büste vom Sockel zu stoßen, das war schnell getan, das «Stalintum» zu überwinden, nicht.
    Nie sprach er von «Stalinismus», der Anhäufung kruder Glaubenssätze, sondern immer nur von «Stalintum», einer durch und durch inhumanen und intoleranten Grundhaltung, die auch die Vernichtung Andersdenkender durch das höhere Ziel rechtfertigte. Eine bessere Gesellschaft ließ sich so jedenfalls nicht erreichen.
     
    Das Leben von Lorenz Lochthofen ist die Geschichte von einem, der überlebt hat. Könnte man die Toten fragen, würden sie uns andere Geschichten erzählen.
    Hatte mein Vater Glück?
    Ja, er hatte Glück.
    Aber nicht nur. Zuerst wusste der NKWD mit dem Deutschen nichts anzufangen, dann orderte Moskau neue Opfer für einen Schauprozess. Die Provinz war stolz, liefern zu können. Er wurde nicht sofort erschossen. Er hatte Glück. Dass er in Workuta in einer Werkstatt unterkam, auch das war ein großes Glück für ihn. Wie jeder Betrieb im Sozialismus musste der Gulag den Plan erfüllen, nicht nur an Toten, auch an Tonnen Stahl und Kohle. Wenn der NKWD versagte, dann waren die Lagerchefs selbst dran. Als Journalist wäre der Vater an den Entbehrungen wie viele andere in der Tundra krepiert, als erfahrener Mechaniker wurde er in Workuta gebraucht.
    Neun Jahre Haft und über zehn Jahre Verbannung haben meinen Vater nicht gebrochen. Er blieb zeit seines Lebens trotz aller Grausamkeiten, die er erlebt hatte, tief davon überzeugt, dass es außer dem eigenen Vorteil auch noch etwas anderes gibt: Anstand. Für ihn war das nie eine politische Kategorie, sondern immer eine zutiefst menschliche.
    Der Historiker Herrmann Weber rief mich kurz nach der Wende an, verwundert, dass der im Lager Verstorbene offenbar Kinder hat. Er hatte sich in seiner Arbeit auf mündliche Überlieferungen derer gestützt, die aus den Lagern zurückkehrten. Ihre Angaben ließen sich in der Regel nicht überprüfen. So verbuchte er Lorenz Lochthofen unter den Toten.
    Noch immer liegt nachweislich Material zum Schicksal vieler unschuldig Verfolgter in den Archiven des russischen Geheimdienstes – so auch zu meinem Vater und meinem Großvater. Es kann nicht eingesehen werden.
    Die Erben der Mörder des «Großen Terrors» halten bis heute die schützende Hand über ihre geistigen Vorfahren.

Informationen zum Buch
    «Was ihm in diesen Tagen und Monaten widerfuhr, das war die Umwertung all seiner bisherigen Erfahrungen: Was als sicher galt, war zerbrochen. Was sauber schien, lag im Schmutz. Was wahr zu sein hatte, wurde Lüge. Selbst das Eis wollte nicht mehr rein und sauber sein.»
     
    Dieses Buch handelt von einem Mann, der in den blutigen politischen Glaubenskämpfen des 20. Jahrhunderts seinen Idealen treu bleibt, obwohl sie ihn fast das Leben kosten. Mit Erfindungsreichtum, Humor und der Hilfe des Zufalls kommt Lorenz Lochthofen durch – ohne zu verbittern. Schicksalsschläge und unerklärliche Wendungen, Liebe und Verlust, Aufbruch und Enttäuschung, Willkür und Grausamkeit: Sergej Lochthofen erzählt das Leben seines Vaters wie einen packenden, tatsachengestützten Roman – einen Lebensroman.

Informationen zum Autor
    Sergej Lochthofen ist Journalist. Geboren 1953 in Workuta (Russland), kam er als Fünfjähriger mit den Eltern in die DDR, wo er eine russische Schule besuchte; er studierte Kunst auf der
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