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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Autoren: Sergej Lochthofen
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nicht der Einzige, den sie in dieser Nacht geholt hatten. Am «Empfang», wo man die wenigen Habseligkeiten der Ankömmlinge durchkämmte, ihnen Gürtel, Schnürsenkel und Taschenmesser abnahm, gab es Gedränge. Die Wachen hatten Mühe, die Gespräche zwischen den Gefangenen zu unterbinden. Ihr «Schnauze halten!» beherrschte den Raum.
    Als die Personalien aufgenommen waren, verlangte Lorenz, die Anklage zu hören und einem Richter vorgeführt zu werden. Der diensthabende Offizier schaute ihn erst verwundert an, dann belegte er ihn mit einem derben Fluch. Auch die Frage nach dem Namen des Staatsanwalts, der den Haftbefehl unterschrieben hatte, blieb unbeantwortet. Stattdessen rief der Diensthabende einen Wachmann.
    «Nimm den Intelligentik mit, sonst vergesse ich mich!»
    Der Wachmann packte Lorenz am Ellenbogen und schob ihn auf den Gang hinaus.
    «Wenn du nicht willst, dass sie dir die Zähne gleich hier ausschlagen, dann halt das Maul.»
    Er führte ihn über dunkle Korridore, Treppen hinauf und wieder hinunter. Dann endlich standen sie vor der gesuchten Tür. Das Schloss knarrte. Lorenz trat ein.
    Die Tür schlug zu.

II
    «… der Mistkerl blutete wie eine angestochene Sau. Ich hatte ihm das Messer bis zum Anschlag unter die Rippen gejagt …»
    Ein glatzköpfiger Fettwanst, der breitbeinig direkt auf dem Steinboden saß, machte trotz seiner Fülle eine blitzartige Bewegung, so als würde er gerade in diesem Augenblick jemanden abstechen. Auf seinem entblößten Oberkörper glänzte der Schweiß im fahlen Licht. Die Speckringe und der schwabbelige Bauch ließen vermuten, der Mann saß noch nicht lange hier. Um ihn herum hockten dicht gedrängt zehn oder zwölf weitere Gestalten, alle nur mit Hosen bekleidet. Das Ganze erinnerte an ein kannibalisches Ritual.
    Lorenz starrte wie gelähmt auf die Gruppe. Da waren sie, die Urki, wie die Kriminellen im Volk hießen. Er hatte einiges von ihren grausamen Sitten gehört. Trotz des endlosen Geredes vom neuen sozialistischen Menschen blühte im Heimatland aller Werktätigen die Kriminalität. Menschen wurden für ein paar Rubel umgebracht, der Schwarzmarkt erreichte nie gekannte Ausmaße, von der Streichholzschachtel bis zum Professorentitel, alles wurde verschoben, und die Unterwelt verdiente daran. Kein Wunder, die Staatsmacht war mit dem täglichen Terror gegen die eigene Bevölkerung ausgelastet. Oft genug dienten die Kriminellen als Druckmittel gegen die Politischen. Wie zum Hohn hießen Mörder, Kinderschänder und Diebe im offiziellen Jargon der Partei «Freunde des Volkes», während jeder, der nach einem politischen Paragraphen verurteilt war, als «Feind des Volkes» galt. Dementsprechend fiel die Behandlung in den Gefängnissen und Lagern aus. Die Kriminellen bekamen Posten, die das Überleben sicherten. Sie herrschten über die Kammern, in denen die Sachen getrocknet wurden oder wachten darüber, dass das Feuer im Kanonenofen der Baracke nicht ausging. Die Politischen rückten aus in die vereiste Taiga, Holz einzuschlagen.
    Die bevorzugte Stellung der Ganoven hinderte diese aber nicht daran, sich untereinander blutig zu befehden. Die Urki teilten sich in zwei Syndikate: die «Sutschenye», «die Hündischen», und die «Sakonniki», «die Diebe im Gesetz», die nach einem strengen inneren Kodex lebten. Die ersten dienten sich beim Gefängnis- oder Lagerpersonal an, kollaborierten mit dem NKWD. Die anderen weigerten sich oft genug, überhaupt zu arbeiten, jegliche Beziehung zu Miliz oder Geheimpolizei lehnten sie ab. Geschickt spielte das Gefängnispersonal die einen gegen die anderen aus und beide zusammen gegen die Politischen. Wer nicht spurte, kam «zufällig» in die falsche Zelle. Das bedeutete den sicheren Tod.
    In den Syndikaten selbst herrschte eine eiserne Hierarchie. An der Spitze standen die Atamane, die sich ihren Titel von den Kosaken ausgeliehen hatten. Als Fußvolk dienten die «Schpana». Die Bezeichnung könnte aus dem Deutschen entliehen sein. Ein Schpana hatte seinem Chef bedingungslos zu gehorchen, wurde also «eingespannt» und der geringste Widerspruch grausam bestraft.
    Waren das nun «Diebe im Gesetz» oder doch die anderen, denen sich Lorenz jetzt gegenübersah? Er wusste es nicht. Woher auch? Im Grunde war es egal. Es gab kein Entrinnen. Die einen waren mit Sicherheit so gefährlich wie die anderen. Unentschlossen blieb er stehen, die Tür im Rücken. Der Fettwanst fuhr mit seiner Erzählung fort.
    «Ich hatte einem Freier gerade
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