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Schwarzer Valentinstag

Schwarzer Valentinstag

Titel: Schwarzer Valentinstag
Autoren: Günther Bentele
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langsam weiter.
    »Wohin gehen wir eigentlich?«, fragte Christoph zögernd, der in der Nacht am Feuer sehr unruhig geschlafen hatte. Einmal hatte er sich aufgerichtet und die vom Feuer beleuchteten Bäume gesehen. Er hatte sich lange nicht zurechtgefunden. Noch nie in seinem Leben war er in der Nacht im Freien gewesen. Nachts sollten die bösen Geister unterwegs sein. Der Regen hatte aufgehört, er sah über sich den Sternenhimmel. Die Glut des Feuers wärmte, seine Kleider waren fast trocken.
    Dann hatte er den Vater sitzen sehen. Unbeweglich, den Blick hinaufgerichtet zu den Sternen. Seine Lippen bewegten sich. Aber es gab doch Hoffnung! Er hatte sich vorgenommen den Vater gründlich auszufragen. Wenn der nur nicht wieder so seltsam war.
    Auch jetzt schien der Vater irgendwie entrückt: »Die Zahlen, wir folgen einfach den Zahlen.«
    Christoph wurde es unheimlich. War der Vater krank? Hatte die Folter ihm den Verstand genommen? Er hatte schon davon gehört, dass Leute unter der Folter den Verstand verloren hatten. Was sollten diese Zahlen? Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn. Die Hoffnung von gestern erschien ihm auf einmal fern und sinnlos.
    »Man kann doch keinen Zahlen folgen!«
    »Man kann, ich kann.«
    Der Vater sah Christoph an. Es war, als würde er ihn seit ihrer Ausweisung aus Stuttgart zum ersten Mal wirklich sehen, sein Blick schien zurückzukehren wie aus sehr weiter Ferne. Dann sagte er nach langer Stille: »Christoph, glaubst wenigstens du mir, dass ich unschuldig bin, dass ich die Gewichte nicht gefälscht habe?«
    »Ja, aber warum sind wir dann hier, Vater? Warum hat man dich zum Tode verurteilt? Und warum hat man uns ausgewiesen?« Er konnte ein Schluchzen nur schwer unterdrücken.
    Der Vater fasste ihn am Arm, wobei er fast nur den Unterarm gebrauchte – die Schulter schien seltsam steif – eine Bewegung, die sehr schmerzhaft sein musste, wie Christoph merken konnte. »Ich weiß es nicht und ich weiß es. Aber ich kann dir nichts Sicheres sagen. Eines weiß ich gewiss, wir sind beide keine Verbrecher. Nicht jeder, den sie verurteilen, ist ein Verbrecher.«
    »Aber die Gewichte! Der Waagemeister hat sie doch geprüft – sie waren doch falsch!« Es fiel ihm schwer, den Satz auszusprechen.
    »Kind?«, der Vater keuchte und drückte die Hand auf die Brust, aber auch das schien mit großen Schmerzen verbunden, »man kann falsche Gewichte unterschieben. Man kann nachts in mein Warengewölbe einsteigen, man kann die Kästen mit den Gewichtssätzen öffnen und kann die Gewichte vertauschen. Das alles kann man.« Die Stimme des Vaters klang gepresst, als bereite ihm auch das Sprechen große Qualen.
    »Und dann zuschauen, wie sie einem alles wegnehmen, wie sie dich zum Tode verurteilen, wie sie uns aus der Stadt ausweisen, wer kann das?« Christoph schüttelte es.
    Der Vater ging immer langsamer.
    Christoph sah, dass seine Arme eigenartig steif an den Körper gelegt waren. »Hat man das alles mit dir gemacht, was der Hetz gesagt hat?«
    Der Vater atmete sehr hart beim Gehen, wieder stand ihm Schweiß auf der Stirn. »Es ist wie die Hölle. Man kann sich nicht vorstellen, was die Menschen für Teufel sein können. Damit meine ich nicht den Henker. Der tut seine Pflicht und hat es schwer genug. Ich meine die, welche daneben stehen und sagen: ›Weiter! Noch einen Grad, ein schwereres Gewicht! Noch einen Grad! Gesteh endlich, du Schwein!‹«
    Lange Zeit war Stille. Christoph konnte nicht sprechen. Er hatte die Hand vorsichtig auf den Arm des Vaters gelegt, aber der war selbst bei der leichten Berührung zusammengezuckt.
    »Sie müssen mir die Gewichte vertauscht haben, als ich noch in Pforzheim war vor ein paar Wochen, nachts, ohne dass es jemand gemerkt hat. Wer konnte sich das auch vorstellen!«
    »Aber warum? Warum? Was haben sie davon? – Und wer?«
    »Ich weiß wenig, fast gar nichts. Aber ich weiß die Zahlen, und weiß sicher, dass ich wegen ihnen verfolgt werde. Ich habe die Gewissheit erhalten, als ich gestern diese Zahlen gerufen habe, bevor wir zum Richtplatz geführt worden sind. – Ich habe große Schmerzen. Lass uns dort auf den Steinriegel sitzen.«
    Christoph musste den Vater wie am Abend stützen, als er sich umständlich und steif und sehr langsam an den Steinhaufen mehr lehnte als setzte.
    »Als ich vor zehn Wochen in Straßburg war – mein Gott, das ist ja schon ein ganzes Menschenleben her –, da kam abends ein Bürger, ein einfacher Mann, vielleicht ein Schmied, er hatte
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