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Schwarzer Valentinstag

Schwarzer Valentinstag

Titel: Schwarzer Valentinstag
Autoren: Günther Bentele
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herunter.
    Der Vater murmelte. Wenn man es nur verstehen könnte! Waren es nicht Zahlen, immer dieselben Zahlen?
    »Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn – fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn – fünfundsiebzig – fünfzehn – «
    Was war das? – Rechnete der Vater – Christoph erinnerte sich, dass sich der Vater, als sie aus dem Gericht geführt worden waren, plötzlich umgedreht und den Richtern Zahlen zugerufen hatte.
    Was war mit diesen Zahlen? Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn. Christoph begann zu rechnen, als könne ihn das von seinem Unglück ablenken: Gut, das ergab, wenn man sie zusammenzählte, genau hundert. Zog man von hundert die zehn ab, so erhielt man neunzig, zog man weitere fünfzehn ab, so ergaben sich, Christoph musste sehr lange nachdenken und die Hände zu Hilfe nehmen, es ergaben sich wieder fünfundsiebzig. Das war überraschend. Aber was konnte es bedeuten? Christoph konnte mehr nicht rechnen, er hätte sein Rechenbrett haben müssen.
    War der Vater ein Zauberer? Einer, der mit Zahlen zauberte?
    Er nahm allen Mut zusammen: »Was rechnest du da? Ich glaube, wir müssen Wichtigeres bereden.«
    Es war, als hätte der Vater nur darauf gewartet, dass ihn der Sohn anredete. Christoph hörte einen heftigen Atemzug. »Es gibt nichts Wichtigeres als diese drei Zahlen!« Der Vater blieb stehen, keuchend, er griff nach der Hand seines Sohnes.
    Christophs Stimme zitterte: »Vater, was ist mit diesen Zahlen?« Dann brach es aus ihm heraus: »Vater, sag doch, dass du nicht schuldig bist, sag es doch!«
    »Die Zahlen, weißt du, beweisen es«, flüsterte der Verurteilte. »Diese Zahlen haben uns ins Unglück gestürzt, aber sie können uns auch wieder heraushelfen.«
    Christoph stand atemlos. Hoffnung – ein winziger Spalt am Regenhimmel. Er starrte den Vater an.
    »Ich habe sie ihnen gesagt, ins Gesicht gesagt. Ihnen diese Zahlen ins Gesicht gesagt.«
    »Was sind das für Zahlen? Wem hast du was ins Gesicht gesagt?
    Was haben diese Zahlen mit unserem Unglück zu tun?« Christoph schluckte, seine Stimme ging in Schluchzen über.
    Wenn das wahr würde, wenn sie zurückkehren könnten, wenn alles wieder so werden würde, wie es noch vor wenigen Tagen gewesen war! Wieder ehrlich! Stuttgart! Italien!
    Der Vater murmelte und wurde immer unverständlicher: »Den Richtern, den Kaufleuten, denen, die mich verfolgen, habe ich sie gesagt. Es sind zwei in Stuttgart, vielleicht auch vier, drei in Straßburg, wenigstens drei. Hast du gesehen, wie sie erschrocken sind: Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn – fünfundsiebzig – fünfzehn – «
    Der Vater taumelte, Schweißperlen standen auf seiner Stirn, er stolperte. Christoph fing ihn auf. Es regnete.
     
     
    Über die Wälder um die Glems rauschte der Regen, als es dunkel wurde. Die beiden Schafhirten, die vor einer Lehmhütte Feuer gemacht hatten und sich die Hände wärmten, sahen durch den Regen im letzten Dämmerlicht zwei Gestalten aus dem Wald kommen, eine größere und eine kleinere. Der Ältere musste gestützt werden, er wankte hin und her; der Kleinere hatte Mühe ihn vor dem Fallen zu bewahren. Die Hunde, die sie umschnoberten, beachteten sie nicht. Der Ältere ging in Lumpen, der Junge hatte eine seltsam reiche Kleidung an. Beide waren vollkommen durchnässt.
    »Lasst uns die Nacht am Feuer verbringen, wir erfrieren sonst. Bitte!« Der Junge hatte eine auffallend helle Stimme.
    Die Männer rührten sich nicht.
    »Und vielleicht habt ihr ein Stück Brot für meinen Vater und auch für mich.«
    »Wie ein Bettler siehst du nicht aus.«
    »Bitte. Wir haben Hunger und wir frieren. Um Jesu Christi willen!«
    Der jüngere Schafhirt, den der andere Hetz nannte, trat rasch heran, blieb aber in einem gewissen Abstand stehen. »Du«, sagte er zu dem Alten, »du, zieh deinen Umhang aus und lass uns deine Arme sehen.«
    »Lass uns an das Feuer«, sagte der Junge.
    »Hörst du nicht!«
    Der alte Mann richtete sich auf, wobei sich sein Gesicht schmerzhaft verzog. Er sagte nichts, hielt aber die Enden seines Umhangs krampfhaft auf der Brust zusammen.
    Der Regen rauschte, das Feuer qualmte.
    »Heute haben sie zwei aus der Stadt gewiesen«, sagte Hetz. »Zeig deine Arme!«
    »Lass sie, sie haben Hunger und sind nass und frieren«, brummte der ältere Hirte.
    »Und dann kommen wir in etwas hinein. Die haben Gewichte gefälscht! Der Matze hat es gesagt, der ist heute aus der Stadt heraufgekommen. Zeig deine Arme!«
    Johann Heinrich Christoph Schimmelfeldt
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