Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarzer Valentinstag

Schwarzer Valentinstag

Titel: Schwarzer Valentinstag
Autoren: Günther Bentele
Vom Netzwerk:
Baum. Es geht jetzt bergauf, erst unmerklich, dann immer steiler. Du kannst es, siehst du, du kannst es. Es ist ganz leicht. Schritt für Schritt, gleich hast du es geschafft. Schritt für Schritt. Ich weiß doch, dass du ein guter Seiltänzer bist, einer der besten Schüler, die ich je hatte.
    Hatte er zum Schluss die Augen geschlossen? Er wusste es nicht.
    Schritt für Schritt.
    »Da oben! Seht ihr ihn? Ganz schön frech!«
    »Ohne mich. Der geht geradewegs in ein Pesthaus. Seht ihr die weißen Kreuze an der Tür?«
    »Da verreckt er auch ohne uns.«
    Christoph lehnte an einem Fensterladen, der sich auf die Seite schieben ließ. Er atmete tief wie im Schlaf. Der Vater war ganz nah. War da eine Flöte?
    Dann war er im Haus.
    Hinter dem Haus war ein Garten und die Ill, weiter hinten waren wieder Häuser und Gärten und dahinter ragten grau die Türme der Stadtmauer.
    Christoph schritt durch die Gartenpforte hinaus, ohne auf jemand zu achten. Dann war er am Illufer, hatte plötzlich das Gefühl doch noch verfolgt zu werden und ging in Philos Höhle. Dort legte er sich auf den Boden wie ein krankes Tier, beide Hände um den Gewichtsstein mit der Handelsmarke seines Vaters geschlossen.
    Zwei Schreiben mit gebrochenem Siegel hatte er in der Eile aus der Kiste mitgenommen. Beide waren aus Stuttgart, beide hatten seinen Vater zum Inhalt. Im ersten Brief wurde der Erhalt der Bitte bestätigt Johann Heinrich Christoph Schimmelfeldt zu ruinieren. Der Austausch der Gewichte wurde vorgeschlagen und im zweiten Brief, der ein Begleitschreiben zu dem Gewichtssatz war, bestätigt. Wie es mit der Sache stehe, wurde gefragt, ein gewisser Schwefellieferant aus Italien vorgeschlagen.
    Es lag alles offen. Und es war alles bewiesen. Mit dem Gewicht in Stuttgart und den beiden Briefen würde er seine Ehre und sein Erbe zurückbekommen. Was der Vater erhofft hatte, war eingetreten. Wenn es Gerechtigkeit gab vor dem Gericht in Stuttgart, so hatte er es geschafft.
    Dennoch blieb die große Freude aus: Mit einer Klarheit wie noch nie, seitdem er in Straßburg war, stand ihm das Bild des gefolterten Vaters vor den Augen – das schweißüberronnene, bleiche Gesicht, die herabhängenden, hölzernen Arme. Er hörte wieder die schweren, pfeifenden Atemzüge.
    Da war Esther.
    Nachts träumte er von riesigen Gerüsten, endlosen Stangen, Seilen und Balken, über die er gehen musste, Leitern, die bis zum Himmel reichten. Dort warteten sie alle auf ihn: die Mutter, der Vater, der alte Abraham, Löb, Nachum, Philo, Esther –
     
     
    Das große Sterben in der Stadt Straßburg ging weiter.
    Der Orden der Geißler war vom Rat verboten worden. Dennoch hörte man ihren Gesang und das Klatschen ihrer Hiebe noch immer in der Stadt.
    Nun hebet auf eure Hände,
    dass Gott das große Sterben wende –
    Gespenstisch war es, als nach und nach das Geläute der Totenglocken verstummte, das Tage und Wochen hindurch zu hören gewesen war, nur nachts war es ausgeblieben. Jetzt war wohl niemand mehr da, der die Glocken hätte läuten können. Auch auf die meisten Uhren an den Türmen war kein Verlass mehr, weil sie nicht mehr aufgezogen wurden. Nur noch wenige dünne Stundenschläge waren zu hören und auch sie wurden immer weniger.
    Wie der Sand, der aus einer Sanduhr rinnt, dachte Christoph.
    Den dicken Herrn Kropfgans hatte nun ebenfalls die Pest geholt, obwohl er einer der eifrigsten Geißler geworden war mit seinem wehleidigen Gesicht. Er habe Blut gehustet und sei sehr schnell gestorben, wurde gesagt.
    Auch Herr Eisenhut mit seinen dünnen Lippen war tot.
    Herr Dopfschütz sei auf viele Wochen verreist, erfuhr Huny, als er ihm angeblich eine wichtige Botschaft persönlich ausrichten wollte. Geflohen, dachte Christoph. Er hat lange ausgehalten.
    Sein Speicher wurde immer noch bewacht.
    Wenn er auch noch stirbt –
    Nein, dachte er, dann machen es andere. Zu viele wissen von den neuen Waffen. Es lässt sich auf die Dauer nicht verbergen.
    Alles kommt so, wie es der alte Abraham gesagt hat.

D ER S TEIN
     
     
     
    Was hielt Christoph noch in Straßburg? Er könnte schon längst wieder in Stuttgart sein, in seinem väterlichen Erbe. Er hatte alles erreich? was sein Vater und er sich erträumt hatten.
    Aber der Vater war tot.
    Er träumte oft von Esther, als wäre sie noch bei ihm. Er hörte,wie sie sagte: ›Mein weißer Elefant!‹, wenn sie ihm durch die Haare strich und einzelne Büschel seiner schwarzen Haare betrachtete. Sie lachte dann so hell, dass er davon
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher