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Schwarze Stunde

Schwarze Stunde

Titel: Schwarze Stunde
Autoren: Christine Feher
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Besitz ergreift, ihn erstarren lässt.
    »Schau mal, da unten«, versuche ich ihn abzulenken, er muss keine Angst haben, vielleicht kann ich ihm helfen, sie zu überwinden, gerade indem wir gemeinsam nach draußen schauen. »Wir sind schon über Berlin. Kannst du erkennen, welcher Bezirk das ist?«
    Corvin schüttelt den Kopf, starrt krampfhaft geradeaus statt zum Fenster hin. Dieses Mal bin ich es, die in der Tasche etwas sucht, um es ihm zu geben, etwas zum Lutschen, finde aber nur Kaugummis.
    »Lass mal«, bringt er mit einem etwas gequälten Lächeln hervor. »Nach einer Weile bekomme ich immer Brechreiz davon, und das kann ich jetzt am wenigsten gebrauchen. Es tut mir leid.«
    »Es muss dir nicht leidtun«, antworte ich und lege meine Hand auf seinen Arm. »Jeder reagiert anders darauf. Auch wenn deine Zähne so aussehen, als würdest du den ganzen Tag Zahnpflegekaugummis kauen.«
    Corvin ringt sich erneut ein Lächeln ab, schweigt jedoch. Bestimmt wünscht er sich einfach nur, dass dieser Flug vorbei ist, egal wer neben ihm sitzt.
    »Hilft dir die Musik?«, frage ich leise und tatsächlich schaltet Corvin ein wenig auf dem Gerät herum, findet doch noch einen eigenen Song, eine gefällige Midtempo-Nummer, bei der er sich wieder selbst auf der Westerngitarre begleitet hat. Aber es ist nicht mehr dasselbe, der Zauber seiner Musik überträgt sich nicht mehr auf uns, ich weiß nicht, ob es an seiner Flugangst liegt oder daran, dass die gemeinsame Zeit gleich vorbei ist, vielleicht ist Corvin schon nicht mehr wirklich bei mir, vielleicht denkt er jetzt an irgendetwas oder irgendwen, der ihn zu Hause erwartet. Ich sehe die Häuser der Stadt unter uns rasch größer werden, erkenne fahrende Autos, Bäume, Busse und Bahnen, Segelboote und Dampfer auf den Berliner Flüssen und Seen und bald auch Menschen, die durch die Straßen gehen. Kinder, die auf Spielplätzen toben, Badende, die sich an kleinen, verschwiegenen Badestellen oder in großen Strandbädern erfrischen. Auch über der Hauptstadt scheint der Sommer noch im Zenit zu stehen.
    Auf den letzten Kilometern fliegen wir so dicht über der Stadt, dass es manchmal aussieht, als würde die Tragfläche des Flugzeugs gleich ein Dach streifen, aber noch sind wir zusammen in der Luft, Corvin und ich, noch hat die Erde uns nicht wieder, nicht der Alltag mit seinen Verpflichtungen, noch ist der Abschied nicht gekommen. Doch gleich darauf setzt das Flugzeug auf der Landebahn auf, wolkenweich, man spürt kaum den plötzlichen Bodenkontakt der Reifen. Die Passagiere applaudieren, Corvin atmet auf und sein Körper entspannt sich augenblicklich.
    »Berlin. Wir sind also wieder da«, sagt er und sieht mich an, plötzlich wieder gelöst, als hätte jemand Ketten von seinem Körper gesprengt, die ihn eben noch gefangen gehalten haben. »Zu Hause. Kennst du eigentlich den Club Unterholz ?«
    Ich schüttele den Kopf.
    »Nie gehört«, gebe ich zu, »aber witziger Name. Komisch für einen Club. Bist du da manchmal?«
    »Fast jedes Wochenende. Dir würde es dort auch gefallen, glaube ich. Die Musik ist klasse, sie spielen Black Hour und vieles weitere in der Art. Vielleicht sehen wir uns da mal.«
    »Gerne. Wenn du mir die Adresse sagst.«
    »Das ist in Pankow«, sagt er, »fast noch Prenzelberg. In der Jenny-Lind-Straße, in der Nähe vom U-Bahnhof Vinetastraße. Komm doch mal dorthin, wenn du nichts Besseres vorhast. Ich würde dich gerne dort treffen.«
    »Alles klar.« Ich versuche gegen eine leise Enttäuschung anzukämpfen, die sich wie ein feiner Nadelstich in mir festsetzt. Keine feste Verabredung, nur ein beiläufiges wenn du nichts Besseres vorhast . Alles ganz unverbindlich, vielleicht ist es besser so. Ich muss genauso gleichgültig tun. »Ich komm bestimmt mal vorbei.«
    »Ganz bestimmt?« Jetzt sieht er mich wieder an, hält meinen Blick fest.
    »Klar«, sage ich und grinse, ein Glück, er will mich wirklich wiedersehen, wir werden uns schon finden. Wenn er wirklich oft ins Unterholz geht, werden wir uns dort eines Abends treffen.
    Einige Reisende lösen bereits gegen die Anweisungen des Pilots ihren Anschnallgurt; Zeitungen werden zusammengefaltet, Bücher und Laptops zugeklappt, Stimmengewirr durchdringt den Raum. Als die Maschine parkt und das Leuchtsignal zum Abschnallen erscheint, geht alles ganz schnell. Corvin springt auf und öffnet die Gepäckklappe, scheint vergessen zu haben, dass seine Umhängetasche unter seinem Sitz liegt. Ich bücke mich, ziehe sie hervor
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