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Schwaben-Gier

Schwaben-Gier

Titel: Schwaben-Gier
Autoren: Klaus Wanninger
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behandelnde Arzt im Stuttgarter Katharinenhospital nach etwa drei Monaten bangen Wartens erklärt, »ich fürchte, die Gehirnregionen, die für den Zugang zum bewussten Leben und Kommunizieren verantwortlich zeichnen, wurden durch den minutenlangen Mangel an frischer Blutzufuhr so stark geschädigt, dass sie nie mehr volle Funktionen übernehmen können. Natürlich dürfen wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich zumindest Teile dieser Gehirnpartien doch noch regenerieren, aber dass dies wirklich geschieht, scheint mehr und mehr ein Warten auf ein Wunder.«
    Das Wunder war nicht eingetroffen, Irene Räubers auf die physischen Funktionen reduzierter Körper nicht mehr zu bewusstem Leben erwacht. Tag um Tag lag sie fast unmerklich atmend in einem eigens für diesen Zustand konstruierten, aus mehreren Teilen zusammengesetzten Bett, dessen einzelne Partien sich von einem Rechner gesteuert in genau bemessenen Abständen abwechselnd hoben und senkten.
    »Es handelt sich um eine spezielle Konstruktion, die dem Wundliegen ihrer Haut vorbeugt«, hatte Dr. Kammerer erklärt, »durch die ständigen Veränderungen werden jeweils andere Partien ihres Körpers belastet.«
    »Mehr können Sie nicht für sie tun?« Die unverhohlene Bitternis in Theresa Räubers Frage war nicht zu überhören gewesen.
    Der Arzt hatte nach einem Moment hilflosen Schweigens den Kopf geschüttelt. »Ich will Ihnen nichts vormachen. Wir haben es jetzt wochenlang mit blutverdünnenden Medikamenten und Infusionen versucht. Natürlich werden sie ihr weiter verabreicht. Aber sonst …«
    »Dann kann ich meine Mutter genau so gut zu mir nach Hause nehmen.«
    Er hatte Theresa Räuber überrascht gemustert, war dann nicht weiter auf ihre Bemerkung eingegangen. Erst drei, vier Tage später hatte er auf den Vorschlag reagiert.
    »Sie haben ernsthaft darüber nachgedacht, Ihre Mutter zu sich zu holen?«
    »Gibt es medizinische Einwände dagegen?«
    »Sofern Sie einen Facharzt damit beauftragen, sie regelmäßig zu untersuchen, nein. Im Gegenteil: Das Wichtigste, das Ihre Mutter benötigt, ist persönliche Zuwendung. Und die können Sie ihr zuhause sicher weitaus intensiver vermitteln als hier bei uns.«
    Ann-Katrin und Braig hatten Theresas Vorhaben verblüfft zur Kenntnis genommen. »Du willst Mama bei dir aufnehmen? In eurer WG?«
    »Marion und Ragna sind einverstanden. Sie wollen sich, soweit es ihre Zeit zulässt, sogar um sie kümmern. Wir stellen das Bett in mein Zimmer. Ich habe es ausgemessen, es gibt keine Probleme mit dem Platz.«
    Theresa Räuber wohnte seit Beginn ihres Theologie-Studiums mit zwei Kommilitoninnen zusammen in einem älteren Haus in der Nähe des Tübinger Westbahnhofs.
    »Die Krankenkasse hat keine Einwände. Im Gegenteil: Die freuen sich darüber, weil sie eine Menge Geld sparen. Sie finanzieren eine Krankenschwester, die zweimal am Tag vorbeischaut und Mama füttert und wäscht, dazu ambulante ärztliche Versorgung in regelmäßigen Abständen. Sie sorgen für denselben Typ von Bett wie im Krankenhaus.«
    Zwei Wochen später war Irene Räuber nach Tübingen transportiert worden. Theresa hatte ihr Zimmer umgeräumt, einen Schrank mit dem Einverständnis ihrer Mitbewohnerinnen in den Flur gestellt, um Platz für das breite Bett zu schaffen. Das seltsame Gurgeln der die verschiedenen Luftpolster aufblasenden und entlüftenden Pumpen erfüllte seither Tag und Nacht den Raum.
    »Kannst du dabei schlafen?« Braig hatte unverhohlene Bewunderung für Theresa Räubers Verhalten erkennen lassen.
    »Die ersten Nächte kam ich kaum dazu. Aber jetzt habe ich mich an die Geräusche gewöhnt.«
    Sie hatten die vor sich hindämmernde Frau seither alle paar Tage besucht, Stunden an ihrem Bett verbracht. So sehr die Begegnungen mit der kranken Mutter zur Routine wurden, die Zeit danach offenbarte fast jedes Mal aufs Neue, wie sehr sie Ann-Katrins Psyche belasteten: Depressive Anfälle, Schlafstörungen, ein Hautausschlag im Gesicht waren stets die Folge. Braig hatte der Bitte Theresa Räubers, die Mutter an ihrer Stelle drei Tage und Nächte zu behüten, weil sie im Rahmen ihres Studiums eine Exkursion nach Bielefeld-Bethel realisieren wollte und ihre Mitbewohnerinnen ebenfalls unabkömmlich wären, deshalb nur zögernd nachgegeben. Vom Freitagmittag bis zum späten Montagabend hatten sie in Theresas Zimmer campiert, sich die meiste Zeit auf die Kranke konzentriert. Mit viel Mühe und mehreren Anläufen war es ihm gelungen, Ann-Katrin am Nachmittag
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