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Schule für höhere Töchter

Schule für höhere Töchter

Titel: Schule für höhere Töchter
Autoren: Amanda Cross
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zu schicken. »Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet«, fuhr Miss Tyringham fort.
    »Nein, aber ich höre von Julia Stratemayer, daß Sie in diesen schwierigen Zeiten hervorragende Arbeit leisten.«
    »Wir tun unser Bestes, aber leicht ist es nicht. Man weiß nie, was als nächstes kommt: alle Mädchen in langen Hosen oder Sandalen oder barfuß, oder sie wollen wegen des Krieges die Schule schließen. Wir versuchen mit den Ereignissen Schritt zu halten, die aber nicht nacheinander, sondern in wahren Sturzfluten über uns hereinbrechen. Julia leistet hervorragende Arbeit bei der Lehrplanreform.«
    »Ja, das habe ich gehört«, sagte Kate. Sie fragte sich, worauf dieses Gespräch wohl hinauslaufen mochte. Miss Tyringham war zwar schon zwanzig Jahre an der Schule, aber erst nach Kates Abschluß dorthin gekommen. Sie hatte den Ruf einer ausgezeichneten Schulleiterin, aber für Kate lag – abgesehen von einem flüchtigen Blick in die Zeitung der »Ehemaligen«, bereitwilligen Spenden, wenn sie dazu aufgefordert wurde, und genüßlichen Gesprächen über das Theban mit ihrer Freundin und Klassenkameradin Julia Stratemayer – ihre Schule in einer anderen Welt.
    »Ist Julia etwa meinem Anruf zuvorgekommen und hat Ihnen schon alles erzählt?«
    »Nein. Was alles?«
    »Wir sind in Schwierigkeiten«, sagte Miss Tyringham. »Eine der Änderungen im Lehrplan, die bereits eingeführt worden sind, besagt, daß die Schülerinnen im Abschlußsemester Seminare über selbstgewählte Themen belegen können. Sie haben alle Pflichtfächer schon abgeschlossen, und wir versuchen zu vermeiden, daß das letzte Semester enttäuschend und langweilig wird, zumal die Arbeit dieses Semesters für die Zulassung zum College bedeutungslos ist. Sind Sie noch am Apparat?«
    »Ja«, sagte Kate. »Ich erinnere mich an die Sache mit dem letzten Semester; obwohl man natürlich zu meiner Zeit so tat, als würde man arbeiten, und eigentlich faulenzte.«
    »Ja. Heutzutage tut niemand mehr so als ob, was ich gut finde, wenn ich auch manchmal den Eindruck habe, daß das ständige Ausleben von Emotionen zum Selbstzweck wird. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Eines der Seminare des Abschlußsemesters beschäftigt sich mit der ›Antigone‹ von Sophokles und möglichen Bezügen zur heutigen Zeit.«
    »Nun, das klingt jedenfalls wunderbar akademisch und belanglos.«
    »Nur auf den ersten Blick. Sehen Sie, Antigone steht für Liebe contra Tyrannei, für die Bewegungsfreiheit der Frau in einer männerbestimmten Welt, für die Auseinandersetzung der Jugend mit dem Alter. Ich kann verstehen, daß George Eliot von der Antigone besonders fasziniert war, und vielleicht ist Julia Stratemayer gerade deshalb auf Sie gekommen.«
    »Es freut mich, daß jemand über George Eliot auf mich kommt«, sagte Kate, »aber ich fürchte, irgendwie verstehe ich nicht…«
    »Natürlich nicht; ich bin schrecklich umständlich. Mrs. Johnson, die dieses Seminar hätte halten sollen, hat einen Bandscheibenvorfall. Sie muß für Monate flach auf dem Rücken im Streckbett liegen. Und das neue Semester beginnt nächste Woche. Da Julia wußte, wie dringend wir eine besonders engagierte Persönlichkeit brauchen, die dieses Seminar halten kann, schlug sie vor…«
    »Aber, Miss Tyringham«, unterbrach Kate, »ich habe mich dieses Jahr beurlauben lassen.«
    »Genau, meine Liebe. Wir dachten – oder hofften vielmehr –, daß Sie deshalb Zeit haben. Den Mädchen liegt wirklich sehr viel daran, aber sie brauchen eine Lehrkraft, die nicht nur erfahren ist in der Leitung von Seminaren, sondern auch, wie sie es ausdrücken würden, ›up to date‹. Leider sind die meisten Altphilologen zwar ausgesprochen firm im Griechischen, schätzen jedoch moderne Interpretationen nicht in dem Maße, wie wir es gern hätten. Mrs. Amhearst, wir brauchen ganz dringend Hilfe und appellieren an Ihr Verständnis und Ihr Entgegenkommen. Selbstverständlich gegen Honorar, aber mir ist klar, daß…«
    »Geben Sie mir ein paar Tage Bedenkzeit?« fragte Kate. »Sehen Sie, ich soll eigentlich an einem Buch arbeiten.«
    »O ja, ich weiß, Sie sind schrecklich beschäftigt und müßten uns irgendwie einschieben. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar wir Ihnen wären. Nein, sagen Sie jetzt noch nichts. Ich werde Mrs. Johnson bitten, Ihnen ihre Literaturvorschlagsliste zu schicken. Vielleicht möchten Sie auch mit ihr sprechen? Ich lasse Ihnen ein oder zwei Tage Zeit, sich zu entscheiden. Darf ich Sie
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