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Schuldig

Schuldig

Titel: Schuldig
Autoren: Jodi Picoult
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sie jetzt zu Hause wäre, hätten sie alle Lichter im Haus ausgemacht, damit nur noch der Weihnachtsbaum leuchtete. Sie hätten ein Geschenk geöffnet – das war Tradition –, und dann wäre Trixie ins Bett gegangen und hätte sich schlafend gestellt, während ihre Eltern die Treppe rauf- und runtergeschlichen wären, um die Geschenke vom Dachboden zu holen – eine Inszenierung für ein Mädchen, das viel, viel schneller herangewachsen war, als sie das gewollt hatten.
    Sie fragte sich, was der falsche Weihnachtsmann in dem Weihnachtsdorf in New Hampshire heute Abend wohl machte. Wahrscheinlich war das der einzige Tag im Jahr, an dem er frei hatte.
    Als endlich doch noch die Lichter ausgingen, fing irgendwer im Schlafsaal an, »Stille Nacht« zu singen. Zuerst klang es dünn, ein Schilfrohr im Wind, doch dann fiel ein weiteres Mädchen mit ein und dann noch eines. Trixie hörte ihre eigene Stimme, körperlos, die von ihr wegtrieb wie ein Luftballon. Schlaf in himmlischer Ruh .
    Sie hatte gedacht, sie würde in ihrer ersten Nacht im Jugendgefängnis weinen, aber sie merkte, dass sie inzwischen wirklich keine Tränen mehr in sich hatte. Und als es wieder still wurde, weil keiner mehr den Text kannte, lauschte sie stattdessen auf die Achtjährige, die sich in den Schlaf schluchzte. Sie fragte sich, wie Bäume versteinerten und ob derselbe Vorgang auch bei einem Menschenherz möglich war.

    In der kleinen Arrestzelle, in der Laura seit vier Stunden hockte, gab es nichts Weiches, nur Beton und Stahl und rechte Winkel. Irgendwann war sie eingenickt und hatte von Regen und Federwolken und Biskuitkuchen und Schneeflocken geträumt – von Dingen, die nachgaben, wenn man sie berührte.
    Sie hätte gern gewusst, wie es Trixie ging, wohin man sie geschickt hatte. Sie fragte sich, ob Daniel auf der anderen Seite der dicken Wand war, ob sie ihn ebenso verhört hatten wie sie.
    Als Daniel hinter einem Polizisten in den Raum trat, stand Laura auf. Sie drückte sich gegen das Gitter, griff hindurch und streckte ihm die Hand entgegen. Er wartete, bis der Officer wieder gegangen war, dann trat er ans Gitter und umarmte Laura. »Alles in Ordnung?«
    Â»Sie haben dich laufen lassen«, seufzte sie erleichtert.
    Er nickte und legte die Stirn an ihre.
    Â»Was ist mit Trixie?«
    Â»Sie haben sie in einem Jugendgefängnis in der Nähe untergebracht.«
    Laura ließ ihn los. »Du hättest Trixie nicht decken müssen«, sagte sie.
    Â»Ich glaube, keiner von uns beiden will, dass sie wegen Mordes verurteilt wird.«
    Â»Wird sie nicht«, sagte Laura. »Weil ich Jason getötet habe.«
    Daniel starrte sie an, und alle Luft schien aus seiner Lunge zu weichen. »Was?«
    Sie sank auf die Metallbank an der Wand und wischte sich über die Augen. »An dem Abend auf dem Parkplatz, nachdem Trixie verschwunden war, hatten wir doch gesagt, dass ich nach Hause fahre und dort auf sie warte. Aber auf dem Rückweg zu meinem Auto hab ich jemanden auf der Brücke gesehen. Ich hab Trixies Namen gerufen, und da hat Jason sich umgedreht.«
    Sie weinte jetzt heftig. »Er war betrunken. Er hat gesagt … er hat gesagt, meine verkommene Tochter würde sein Leben kaputt machen. Sein Leben. Er ist auf mich zugegangen, und ich … ich hatte Angst und hab ihn weggestoßen. Da hat er das Gleichgewicht verloren und ist über das Geländer gekippt.«
    Während sie sprach, fasste Laura sich unwillkürlich an ein Ohr, und Daniel fiel auf, dass der kleine goldene Ohrring fehlte, den sie normalerweise trug. Das Blut. Das rote Haar an der Uhr. Die Schuhabdrücke im Schnee . »Mein Ohrring hat sich in seinem Pullover verfangen. Er hat ihn rausgerissen, als er fiel«, sagte sie, weil sie Daniels Blick bemerkt hatte. »Er hat sich mit einer Hand am Geländer festgehalten und hat mir die andere hingestreckt. Ich hab nach unten gesehen – und mir wurde schwindelig. Er hat mich angeschrien, ich soll ihm helfen. Ich hab nach seiner Hand gefasst … und dann …« Laura schloss die Augen. »Dann hab ich ihn losgelassen.«
    Es war kein Zufall, dass Angst einen Menschen ebenso leicht zum Äußersten treiben konnte wie Liebe. Sie waren die unzertrennlichen Zwillinge des Gefühls: Wenn für dich nichts auf dem Spiel stand, hattest du auch nichts, wofür es sich zu kämpfen lohnte.
    Â»Ich bin nach Hause gefahren
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