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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern
Autoren: Florian Werner
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geboren zu sein, nicht zu sein , nichts zu sein»). Es ist also nur billig anzunehmen, dass mein Bruder bereits bei unser beider Empfängnis schneller war als ich; dass er beziehungsweise das für ihn bestimmte Spermium meine Keimzelle unsanft beiseite geschubst und sich selbstbewusst auf die größere der beiden Eizellen gestürzt hat, die da im Eileiter staken und ihrer Befruchtung harrten. Aber ich sollte mich nicht beschweren; ich sollte froh sein, dass überhaupt noch eine zweite Eizelle da war. Die 299999998 anderen Spermatozoen, die notgedrungen leer ausgingen, waren deutlich übler dran.
    Natürlich sind solche Überlegungen ziemlich neurotisch, ja nachgerade absurd. Trotzdem rühren sie an einen neuralgischen Punkt, an eine zentrale Frage, die sich wohl jeder Schüchterne schon einmal gestellt hat: Warum bin ich eigentlich schüchtern? Seit wann? Wer oder was hat mich geprägt, hat mich zu dem gemacht, der ich bin? Bin ich so schüchtern, weil ich seinerzeit bei der Tanzstunde eine Zurückweisung erfahren habe − oder bin ich umgekehrt nur deshalb zurückgewiesen worden, weil ich zu schüchtern war, um rechtzeitig zu fragen? Rührt meine Schüchternheit daher, dass mein Zwillingsbruder mich damals bei unserer Geburt in die Schranken verwiesen hat − oder habe ich ihm den Vortritt gelassen, weil ich schon als Fötus so verdammt schüchtern war? Mit anderen Worten: Ist Schüchternheit genetisch bedingt − oder entsteht sie durch Erfahrungen, Erziehung, Kultur?
    Tatsächlich spricht einiges dafür, dass Schüchternheit zumindest teilweise angeboren ist, besteht doch gerade bei dieser Charaktereigenschaft, um es auf Humanwissenschaftlich zu sagen, eine ausgeprägte ‹familiäre Häufung›. Wenn mein Zwillingsbruder weniger schüchtern ist als ich, so ist das nicht notwendigerweise ein Widerspruch: Da wir als zweieiige Zwillinge nur etwa fünfzig Prozent des Erbguts teilen, wäre es durchaus denkbar, dass ich den Löwenanteil der für diese Disposition zuständigen Erbinformationen abbekommen habe, während im Genpool meines Bruders irgendwelche anderen suboptimalen Erbanlagen verklappt wurden.
    Die Psychologen Dorret Boomsma und Robert Plomin gehen sogar davon aus, dass Schüchternheit in stärkerem Maß weitervererbt wird als andere Charaktereigenschaften − allerdings nicht über ein einzelnes Gen oder ein bestimmtes Chromosom, sondern vermutlich über ein ganzes Bündel von Anlagen. Unter anderem scheint bei sozialängstlichen Menschen das hormonelle Gleichgewicht zwischen dem sogenannten Belohnungssystem, dem Angstsystem und dem denkenden Gehirn gestört zu sein. Üblicherweise schüttet der Körper in sozialen Situationen Botenstoffe wie Dopamin aus, die das Belohnungssystem stimulieren und so für gemeinschaftsbedingtes Wohlbefinden sorgen. Bei Schüchternen funktionieren nun die für die Dopamin-Aufnahme zuständigen Rezeptoren offenbar nicht richtig. Das Angstsystem arbeitet hingegen auf Hochtouren, wofür, wie bei vielen depressiven Erkrankungen, ein Mangel an Serotonin verantwortlich gemacht wird. Das denkende Gehirn schließlich muss die widerstreitenden Signale, die es von dem Belohnungs- und dem Angstsystem empfängt, gegeneinander abwägen, muss zwischen der Lust auf und der Angst vor Gesellschaft vermitteln. Bei schüchternen Menschen behalten die hysterischen Stimmen aus dem Angstsystem dabei offenbar häufig die Oberhand, während die zaghaften Einflüsterungen des Belohnungssystems ungehört im Schädelinneren verhallen.
    Gut möglich also, dass meine Schüchternheit nichts weiter als das Resultat eines genetisch bedingten hormonellen Ungleichgewichts ist und dass ich bei rechtzeitiger Einnahme von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern ein vor Selbstbewusstsein strotzender Draufgängertyp geworden wäre. Allerdings sträubt sich etwas in mir (vermutlich das verdammte Angstsystem), mich mit einer solchen rein neurowissenschaftlichen Erklärung zufrieden zu geben: Schließlich wurden die Erbanlagen, aus denen ich mich entwickelt habe, nicht einfach von meinen Eltern in einer Petrischale zusammengerührt, mit einem Bunsenbrenner auf siebenunddreißig Grad erhitzt und dann achtzehn Jahre lang auf der Fensterbank stehengelassen, um zu sehen, ob sich daraus ein drolliger Homunkulus entwickeln würde. Wie alle Menschen bestehe ich nicht nur aus einer Summe von Genen, sondern wurde auch durch Umwelteinflüsse und soziale Erfahrungen geprägt. Auch wenn ich genetisch zur Schüchternheit
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