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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern
Autoren: Florian Werner
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Alter, in dem ein gesteigertes Interesse an der Selbstdarstellung mit einer zunehmenden Entfremdung vom eigenen Körper zusammenfällt: Man würde sich gerne zeigen, dabei aber am liebsten nicht gesehen werden. Da diese hormonellen Chaostage kaum jemandem erspart bleiben, dürfte das Gefühl der Schüchternheit auch Menschen, die sonst als selbstbewusst gelten, zumindest aus der Adoleszenz vertraut sein. Bei einer Befragung von achthundert jungen US-Amerikanern gaben immerhin neunundneunzig Prozent an, mit einer solchen Form der situativen Schüchternheit vertraut zu sein; das übrige Prozent dürfte dort, wo normalerweise das Herz sitzt, einen Klumpen Rinderhack in der Brust haben.
    Wann ich selbst zum ersten Mal Schüchternheit empfunden habe, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Das erste Bild, das emporsteigt, wenn ich im trüben Tümpel meiner frühkindlichen Erinnerungen fische: Ich liege im Wasser, offenbar in einer Badewanne, alles um mich herum ist weiß, warm, weiß… doch halt! Dort auf dem Grund der Wanne liegt ein braunes, längliches Etwas. Ich weiß nicht, wo es herkommt, habe aber den dumpfen Verdacht, dass es vorher in mir gewesen sein und sich unkontrolliert aus einer meiner Körperöffnungen davongestohlen haben könnte. Mit dieser Erinnerung verbinde ich ein erstes, vages Gefühl der Entblößung – ich glaube aber nicht, dass das für besondere Schüchternheit spricht, im Gegenteil: Solche Schamgefühle gehören zur Sozialisation notwendigerweise dazu. «Scham ist in der Regel ein vorteilhaftes und nützliches Gefühl», schreibt der Psychologe Rowland S. Miller, «das normalerweise wichtige interaktive Funktionen hat». Indem wir uns schämen oder beschämt werden, lernen wir gesellschaftliche Regeln und Normen kennen und sie einzuhalten. Wenn bestimmte Verhaltensweisen nicht mit Scham- und Peinlichkeitsgefühlen belegt wären, würden wir auch als Erwachsene noch fröhlich in die Badewanne kacken.
    Meine erste zusammenhängende Erinnerung, mit Ton und in Farbe, stammt aus dem Kindergarten – und ich glaube, dass diese eigentlich unspektakuläre, für meine Genese als Schüchterner aber bezeichnende Episode mir vor allem deshalb noch so lebhaft vor Augen steht, weil ich mich damals sehr schämte. Wir waren im Bewegungsraum und spielten eine Art Charade: Jedes Kind musste also vor den Rest der Gruppe treten und pantomimisch eine Handlung darstellen; die anderen mussten erraten, was er oder sie da machte. Schon damals, im zarten Alter von vier oder fünf Jahren, war ich von der Vorstellung besessen, eine Mauer um mich zu errichten; und nicht nur das, ich wollte die Mauer, um sie gegen Eindringlinge zu imprägnieren, auch noch mit flüssigem Stahl bestreichen. Als ich bei der Charade an die Reihe kam, fiel mir daher nichts besseres ein, als einen unsichtbaren Pinsel in einen imaginären Eimer zu tauchen und dann mit regelmäßigen Bewegungen eine übermannshohe Fläche, die mich von meinen Spielkameraden trennte, zu bemalen.
    Nun muss man wissen, dass ich einen sehr holzvertäfelten, sehr kerzenerhellten, sehr bienenwachsduftenden Waldorfkindergarten besuchte, der schon kraft seiner Architektur alle negativen Gedanken auszuschließen schien. Etwas so krankhaft Soziopathisches wie der Wunsch, eine Mauer aus Stahl um sich aufzubauen, schien jenseits der Vorstellungswelt meiner Spielkameraden wie auch der Erzieher zu liegen (zugegeben: Es war auch wirklich schwer zu erraten).
    «Du malst ein schönes Seelenbild, stimmt’s?»
    «Nein!»
    «Dann bist du… ein fleißiger Handwerker? Du bemalst eine Wand mit Farbe!»
    «Auch nicht!»
    «Tja… was machst du denn dann?»
    «Ich bestreiche eine Mauer mit flüssigem Stahl!»
    «Aha. Hm. Aber Florian, das geht doch gar nicht. Stahl ist ja sehr hart. Deshalb kann man ihn nicht…»
    «Man muss ihn eben vorher heiß machen. Wenn er dann auf der Wand ist, wird er wieder kalt und hart, und keiner kann kommen und einen töten.»
    Den entsetzten, für eine Waldorf-Kindergärtnerin erstaunlich verachtungsvollen Blick, den meine Erzieherin mir zuwarf, habe ich bis heute nicht vergessen. Ich hatte gehofft, sie durch eine besonders raffinierte, die unterschiedlichen Aggregatszustände von Metall auf differenzierte Weise in Betracht ziehende Pantomime zu beeindrucken − und sie schüttelte nur fassungslos den Kopf! Sicher ahnte sie bereits, dass ich für die weiteren Bemühungen der Waldorfpädagogik verloren war und später an einer Staatsschule enden würde:
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