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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern
Autoren: Florian Werner
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In einem extrem rechtwinkligen humanistischen Gymnasium, wo man so sinnlose Dinge lernte wie den Schmelzpunkt von Stahl zu errechnen oder das Wort ‹Mauer› in mausetoten Sprachen zu deklinieren (murus muri muro murum muro) , und wo man einen Schutzwall aus Stahl tatsächlich ganz gut hätte gebrauchen können.
    Nicht dass ich meinen Erziehern, meinen Eltern oder Lehrern die Schuld an meiner Schüchternheit in die Schuhe schieben will: Ich wurde, soweit ich mich erinnern kann, nie explizit zu verhaltenem Verhalten erzogen. Niemand wusch mir je den Mund mit Seife aus, niemand drohte mir bei aufmüpfigem Betragen mit dem Kochlöffel, niemand sagte: «Wenn du nicht sofort still bist, kommst du an die Tafel und schreibst hundertmal: Ich will immer schön schüchtern sein!» Sehr viel einflussreicher als solche Erziehungsmethoden aus der Rumpelkammer der schwarzen Pädagogik dürfte für mich jene Form von sozialem Lernen gewesen sein, die von Psychologen als Imitationsverhalten oder modeling bezeichnet wird: Das Kind ahmt dabei, meist unbewusst, das Verhalten wichtiger Rollenvorbilder nach; und man muss kein eingefleischter Anhänger des Diskurstheoretikers Michel Foucault sein, um zu ahnen, dass solche scheinbar freiwillig angenommenen, internalisierten Verhaltensmuster weitaus wirkmächtiger sein können als andere, die einem gewaltsam aufoktroyiert wurden.
    Ältere Geschwister habe ich, abgesehen von meinem wenige Minuten älteren Zwillingsbruder, keine, meine Großväter durfte ich nicht mehr kennenlernen − es ist also naheliegend, dass vor allem mein Vater für mich als Vorbild herhalten musste. Ich denke, er wird mit mir einer Meinung sein, wenn ich ihn ebenfalls als schüchtern einstufe (wenn er anderer Meinung sein sollte, wäre er vermutlich zu schüchtern, um zu widersprechen, ich behalte also in jedem Fall recht). Er trägt die Haare in einer Art Afrolook, um den ihn Paul Breitner beneiden dürfte − aber nicht etwa, um dadurch aufzufallen, sondern, so unterstelle ich ihm zumindest, im Gegenteil: weil er glaubt, dass man ihn darunter nicht sieht . Auch die Angewohnheit, sich unter zeltplanenförmigen T-Shirts und Pullovern zu verstecken − eine Selbstkaschierungsstrategie, die ich selbst mit Anfang dreißig, in einem gewaltigen Willensakt und durch gutes Zureden meiner Frau, überwunden habe −, behält er noch im siebten Lebensjahrzehnt wacker bei. Natürlich sieht man ihn trotzdem, und man sieht ihm an der Nasenspitze (und den Haaren, und dem XXL-Pullover) an, dass von ihm in Konfrontationssituationen wenig Widerstand zu erwarten ist.
    Eine Anekdote, die mein Vater mit der für ältere Semester typischen Regelmäßigkeit zum Besten gibt, berichtet davon, wie er einmal in einem Restaurant einen Heringstopf bestellte − wie in dem Topf, der ihm daraufhin serviert wurde, kein einziger Hering zu finden war − und wie mein Vater schließlich, als er die vollständige Abwesenheit von Heringen im Heringstopf beim Kellner monierte, zur Antwort erhielt: «Da haben Sie Pech gehabt.» Mein Vater erzählt diese Geschichte, neben ihrem überschaubaren Unterhaltungswert, vor allem als Beleg für die unfassbare Schlitzohrigkeit und Kaltschnäuzigkeit der Welt − sie ist aber mindestens genauso ein Beleg für seine unfassbare Schüchternheit, denn natürlich aß er den heringslosen Heringstopf nach dieser Belehrung brav auf, und wahrscheinlich gab er dem Kellner noch ein großzügiges Trinkgeld, schließlich hatte er ihn durch seine Beschwerde unnötig provoziert. Ich pflegte über diese Anekdote immer etwas überheblich den Kopf zu schütteln und meinem Vater Vorwürfe zu machen, dass er sich so über den Restauranttisch ziehen ließ − bis ich eines Abends in einem Schweizer Gasthof Pasteten mit Birne und Ziegenkäse bestellte, und Pasteten ohne Birne und Ziegenkäse bekam. Widerspruchslos aß ich die trockenen Mürbeteighüllen; seitdem habe ich für meinen Vater vollstes Verständnis.
    Jetzt konzentrieren sich all meine Hoffnungen auf meine Tochter. Andere Väter wünschen sich vielleicht, dass ihre Tochter später einmal Eisprinzessin wird oder Primaballerina oder Professorin für Teilchenphysik; ich selbst habe keine solch übersteigerten Erwartungen. Ich will nur, dass meine Tochter, wenn sie einmal groß ist… wenn sie einmal in ein Restaurant geht und ein medium gebratenes Steak bestellt… und wenn sie dann ein Steak serviert bekommt, das well done ist, LAUTSTARK AUF DEN TISCH HAUT, DIE HERBEIHASTENDE
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