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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern
Autoren: Florian Werner
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Schüchternheitsratgeber sowohl explizit als auch in der Wortwahl an Männer richteten. So heißt es in Die erfolgreiche Bekämpfung der Schüchternheit aus dem Jahr 1911, dass die Schüchternheit die von ihr betroffenen Menschen nicht nur «übermannt», sondern nachgerade «entmannt», sie also ganz und gar ihrer maskulinen Charaktereigenschaften beraubt. Der Theoriebildung der Zeit entsprechend führt das Buch dieses charakterliche Defizit denn auch auf eine Tätigkeit zurück, die als spezifisches Männer- beziehungsweise Knabenproblem galt, nämlich die Masturbation: «Es ist sicher, dass sich die weitaus größere Anzahl der Schüchternen […] aus Leuten zusammensetzt, die in der Zeit der Mannbarkeit […] ihre sexuellen Triebe auf eine Weise zu befriedigen gesucht hat, die nicht dem natürlichen Wege und Maße entspricht.» Frauen und Mädchen hingegen gesteht der Ratgeber ein schüchternes Betragen − obwohl dieses eingangs als «der schwierigste und gefährlichste aller Lebensfehler» bezeichnet wird − durchaus zu; mehr noch, es preist die weibliche Schüchternheit sogar als besonders ehrbar und charaktervoll: «Die Schüchternheit, welche Mädchen vor den Männern kundgeben, ist naturgemäß anderer Art als die der Knaben vor Frauen und Mädchen. Bei letzteren ist das Schamgefühl […] geradezu als edles Gefühl und als sittliche Schutzwehr vor Unreinem zu loben.»
    Doch nicht nur populäre Selbsthilfebücher, auch renommierte Wissenschaftler beschrieben die Schüchternheit als typisch weibliche Eigenschaft und ergo als männliches Manko: Der Psychoanalytiker Alfred Adler etwa wertete ein übertriebenes Schamverhalten als ‹männlichen Protest› mit ‹weiblichen Mitteln›. Und das Bündel von Eigenschaften, das Sigmund Freud in seiner umstrittenen Vorlesung über «Die Weiblichkeit» als typisch für das ‹Wesen der Frau› bezeichnete, deckt sich auf verblüffende Weise mit der Beschreibung eines Schüchternen.
    Obwohl sich seit dem frühen 20. Jahrhundert an diesem altbacken-patriarchalen Rollenbild zum Glück einiges geändert hat, leben manche Grundannahmen, was den ‹natürlichen› Charakter des Mannes und der Frau betrifft, auch in unserer vermeintlich aufgeklärten Zeit noch fort − und diese zeigen sich eben nicht zuletzt an dem geschlechterspezifischen Umgang mit der Schüchternheit. So wird ein zurückhaltendes Betragen bei Mädchen und Frauen auch heute noch eher akzeptiert als bei Jungen und Männern: Schüchternheit gilt offenbar weiterhin als Teil ihrer kulturellen Geschlechteridentität, als Teil dessen, was in der feministischen Theorie als gender bezeichnet wird.
    Wenn ein pubertierender Junge sich im Umgang mit dem anderen Geschlecht auffallend schüchtern verhält, so wird ihm, wie erwähnt, von seinen Altersgenossen bisweilen unterstellt, dass er homosexuell sei; ein zurückhaltendes Auftreten gilt also, zumindest in bestimmten Jungmännerkreisen, nach wie vor als weiblich oder ‹weibisch› (als der amerikanische Schauspieler und Teenager-Schwarm Kellan Lutz 2011 Gerüchte um seine sexuelle Orientierung zurechtrücken wollte, gab er bezeichnenderweise zu Protokoll, er sei «nicht schwul, nur schüchtern»). Die Wahrscheinlichkeit, dass ein reserviert agierendes Mädchen von ihren Klassenkameradinnen als ‹Lesbe› beschimpft wird, ist demgegenüber vermutlich eher gering. Auch wenn sie subjektiv genauso unter ihrer Schüchternheit leiden mag wie ein Junge, wird ihr Verhalten doch eher als dem weiblichen Rollenklischee entsprechend akzeptiert.
    Dieses gendering setzt sich auch im Erwachsenenalter und hier vor allem im Berufsleben fort. Wie wir gesehen haben, ist Schüchternheit zuvorderst ein Problem der öffentlichen Selbstdarstellung. Da nun die Mehrzahl der deutschen Manager, Minister, Verfassungsrichter und Vorstandsvorsitzenden − Menschen also, die sich aus beruflichen Gründen andauernd exponieren müssen − nach wie vor Männer sind, gilt Schüchternheit in der Berufswelt, sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen gesehen, vor allem als männliches Problem.
    Die Anzeigen, mit denen in den USA Medikamente beworben werden, die gegen soziale Phobien zum Einsatz kommen, adressieren dementsprechend meist völlig verschiedene Problemzonen, je nachdem, ob sich die Kampagne an eine männliche oder eine weibliche Zielgruppe richtet. Zeigen die Werbebilder als betroffenen Beispielpatienten einen Mann, so erzählen die begleitenden Texte von beruflichen Misserfolgen,
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