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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr
Autoren: Robert Menasse
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    Der Potmesil ist ein Arbeiter in der Glasfabrik, das steht ja da drinnen
    Ja sicher, aber welcher? Wer hat diesen Plan in Wirklichkeit gefaßt? Ich warne Sie, Trisko, als Mitwisser hängen Sie schon drinnen, aber wenn Sie nicht auspacken, dann bleiben Sie als Mittäter übrig.
    Trisko arbeitete fieberhaft. Er verstand sich als Seismograph, als Sonde, die alle Regungen, alle wirkenden Kräfte und Widersprüche in der Gemeinde aufzeichnete, um dann exemplarisch zu zeigen, daß am Ende die Vernunft siegte. Er stellte sich vor, wie die Komprechtser einmal, wenn sie sein Stück sahen, sagen werden: Ja, so wars! – und dann trotz allem auf sich stolz sein konnten.
    Herr Trisko, wer hat die Idee gehabt, sich an dem Kind zu vergreifen, weil – wie steht es da bei Ihnen? Weil: Wie willst an Tschuschn von der Fabrik bis zum See schleifen?
    Aber ich sag Ihnen doch, Herr Kommissar, das ist Wirtshausgerede. Ein Theaterstück. Meine Idee war
    Also es war Ihre Idee?
    Nein. Ich wollte sagen, das war meine Idee für das Theaterstück, eine Fiktion, ich konnte doch nicht wissen
    So etwas kann man nicht schreiben, wenn man nichts weiß. Das wäre doch die Ausgeburt einer kranken Phantasie. Sie wissen etwas. Und Sie leiden unter Ihrem schlechten Gewissen. In diesem Steinlied, mit dem Ihr Stück beginnt, geht es doch auch nur um Blut und Mord und Frevel und daß Sie nach einem Richter rufen
    Aber das ist doch metaphorisch, das ist
    Herr Trisko, warum reden Sie nicht endlich Klartext? Warum erleichtern Sie nicht Ihr Gewissen?
    Trisko hatte, was die Wirksamkeit der von ihm mitbegründeten Literaturzeitschrift betraf, nie Illusionen gehabt, nie große Hoffnungen gehegt. Der Findling hatte hundertfünfzig Abonnenten, die zum Teil den Abo-Preis nicht einmal überwiesen. Wer interessierte sich hier schon für Literatur? Eine Liebhabergeschichte. Ein paar engagierte Menschen, das war alles. Erstmals nach fünf Jahren hatten sie für diese Zeitschrift eine kleine Subvention erhalten. Als Trisko den ersten Akt von »Gründerzeit« in der Septembernummer veröffentlichte, dachte er, daß ein paar Bekannte das lesen und dann vielleicht mit ihm darüber diskutieren würden. Und dann ging wenige Wochen nach dieser Publikation eine Zellentür hinter ihm zu. Und die größten Zeitungen des Landes zitierten aus dieser Zeitschrift, aus seinem Stück. Eine unter der Schlagzeile: Chronik eines angekündigten Mordes.
20.
    Dort, wo der See nicht frei zugänglich war, an der Seite, die sich an der Waldlichtung entlangzog, dort, wo das Schilf – war das Schilf? Nicht einmal Schilf konnte Roman mit Sicherheit identifizieren – und hohe Gräser standen, und Pflanzen mit großen Blättern ganz dicht wuchsen, Blätter, die größer waren als zwei Handflächen und kaum die Sonne auf die Erde durchließen, dort, gerade noch im Blickfeld des Hochsitzes, lagen die beiden Kinder wie in einem Nest, das sie in die Vegetation hineingedrückt hatten. Der Boden mußte feucht und kalt sein, zumal zu dieser Jahreszeit, auch wenn es ein goldener Oktober war, die Sonne stand an einem fast wolkenlosen blauen Himmel, aber schon ohne Kraft, reiner Schein, der nicht wärmte. Wie konnten die Kinder dort so lange liegen? War ihnen nicht kalt? Sie werden sich verkühlen. Na und, ein paar Tage, die sie nicht in die Schule gehen mußten, und sie würden wieder gesund sein.
    Zuerst haben sie nur dort gesessen, haben miteinander geredet, der Junge mit großen Gesten, mit ununterbrochen zwischen ihren Gesichtern tanzenden Handbewegungen, als wollte er auf übertriebene Weise die Zeichensprache der Stummen vorführen. Nichts war zu hören, kein Laut drang zum Hochsitz, nicht von dort. Nur manchmal, und auch nur wenn er sich darauf konzentrierte, war ein leichtes Knarren oder sanftes Scharren zu hören, das kam vom Wald, vielleicht von schweren Ästen, die sich bewegten, ab und zu ein dumpfes Aufprallgeräusch, vielleicht von Zapfen, die von den Bäumen fielen. Einmal hatte ein Specht angeschlagen, aber nun war es ganz ruhig, er hörte nur sich selbst, das leise Schnaufen seines verhaltenen Atmens.
    Nun lagen die Kinder Seite an Seite, sie mit dem Kopf an seiner Schulter, ein Bein leicht angewinkelt, das Knie auf einen Schenkel des Buben gelegt. Da lagen sie wie – Schlafende. Daß ihnen nicht kalt war. Vielleicht wurde ihnen doch ein wenig kalt, denn schon setzten sie sich wieder auf, nein, sie standen auf, plötzlich schlüpfte das Mädchen aus ihrem Kleid. Warum zog sie
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