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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr
Autoren: Robert Menasse
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geschlossenen Augen im Bett und fühlte Blicke auf sich gerichtet. Als stünde jemand an seinem Bett und blickte auf ihn hinab. Die Zöglinge, die nach dem Nachtruhe-Kommando zwischen den Betten des Schlafsaals herumgeschlichen und schließlich an einem Bett stehengeblieben waren, diesmal an seinem, zwanzig, dreißig, vielleicht fünfzig Sekunden lang hatten sie hinuntergeblickt auf den Mitschüler, der zu schlafen vorgab, der sich totstellte, vielleicht ziehen sie weiter, zu einem anderen Bett, totstellen, vergeblich, die Angst ließ die Augenlider zucken, dann sausten die verknoteten Handtücher herab, klatschten in sein Wimmern hinein, keine abwehrende Handbewegung, lediglich eine Hand schützend über dem Geschlecht, listig schon dorthin plaziert, bevor sie die Decke weggerissen hatten, totstellen, es wird vorbeigehen, und sich wegwünschen, sich wegwünschen, und wissen: Jahre noch, Jahre noch, aber es geht vorbei. Und dann der Blick hinunter auf das Bett, in dem sein Vater lag, sterbend, nicht mehr imstande, ein Wort zu sagen, zu seiner Frau, zu seinem Sohn, nicht mehr imstande oder nicht mehr willens, ihre Blicke zu suchen, ein Kind an einem Bett, in dem sein erster Sterbender lag, sein Vater, der ihn betrog um ein letztes Wort, einen letzten Satz, den er behalten hätte können, vermehren zu einer Lebensgeschichte, aber kein Wort, kein Blick, der Vater lag versteckt unter einer vorweggenommenen Totenmaske, seiner Lebensmaske, immer hatte er sich versteckt, totgestellt, ein Überlebensrezept, das wirkte nicht mehr, er hatte versucht, noch einmal oder endlich einmal die Hand des Vaters zu nehmen, aber da war er weggedrängt worden, von der Ärztin, die die Hand des Vaters nahm, seinen Puls, von den Männern des Rettungsautos, die ihn aus dem Bett hoben, die Mutter, die ihn wegzog, er hatte die Augen geschlossen, aber irgendwie sickerte alles durch die gallertartigen Lider durch oder bildete sich in der Erinnerung so ab oder ein, der Tod, und seine Mutter kam zu Bett, totstellen, während sie leise und diskret, um ihn, der zu schlafen vorgab, nicht zu wecken, ins Bett schlüpfte, die Todsünde, totstellen, er hielt die Augen geschlossen, später öffnete er sie, und er sah ein von einem Friedhofmond erleuchtetes Zimmer, den Schrank, eine dunkle Fläche im Halbdunkel, ein riesiger Grabstein, das Tor einer Gruft, er ging mit den Augen aus und ein, atmete sie noch? Ja, seine Mutter atmete ganz regelmäßig, er konzentrierte sich auf ihre Atemzüge, auf seinen Herzschlag, warum konnte er nicht einschlafen?
    Später schmiegte er sich im Schlaf an sie, umschlang sie, drückte sich an ihren Rücken, sie wachten auf, es kam ihm zu Bewußtsein, was er tat und daß der Satz in seinem Kopf war: Ich nehm sie mit.
    Nein. Augenblicklich saß er, dann sprang er aus dem Bett. Was ist denn? Nichts, ich kann nicht schlafen. Er lief aus dem Schlafzimmer, sie kam ihm nach.
    Was ist denn?
    Ich kann nicht schlafen.
    Soll ich dir
    Nein, laß mich in Ruhe, laß mich endlich in Ruhe.
18.
    Roman war vom Elternschlafzimmer wieder in sein Zimmer übersiedelt. Er wich seiner Mutter aus, die ihn wieder wie ein Kind behandelte, das man schon wie einen Großen behandeln konnte. Er trug Richards Hausmantel, dazu grobe Filzpantoffeln, von seiner Mutter eigenhändig gefilzt, aus der Wolle der eigenen Schafe, jetzt waren es Richards Schafe.
    Er regredierte hier, das war ihm durchaus bewußt, nicht mehr lange, und er würde nur noch in seiner Spielecke sitzen, vor seinen Videogeräten, ab und zu gefüttert werden, und bald würde er nur noch lallen. Seine Videorecorder. In der vergangenen Nacht hatte er begonnen, alle Aufnahmen, die er gemacht hatte, nacheinander abzuspielen, im Schnellauf, ohne Ton, mit Streifen am oberen und unteren Bildrand hatte er die Bilder vorbeihuschen lassen, er hatte nicht schlafen können, warum konnte er nicht schlafen, und wenn er schon nicht schlafen konnte, warum konnte er nicht geordnet über sich nachdenken? So war er starr vor dem Bildschirm gesessen – STOP, AUS, plötzlich der Gedanke, daß im Moment des Todes das Leben wie ein Film vor einem ablaufen soll, und was machte er? Er stellte diese Situation technisch her – und dann sollte er die Augen schließen? Dieser Film ist kein Leben gewesen, nur Ersatzmaterial, reproduzierbar und ohne Belang, von nachvollziehbarer Bedeutung nur das Banalste: unbewußt und unbeabsichtigt hatte er den Wechsel der Jahreszeiten aufgenommen …
    Nun kalkulierte er, was er für
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