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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr
Autoren: Robert Menasse
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für ihren eigenen Ruf – aber wenn es in einigen Jahren plötzlich sichtbar würde, ein Gesicht, unverkennbar, das wäre. König schob die Fotos zusammen. Ein Test. Er müßte einen Test machen. Einen Vaterschaftstest. Aber würde Verena ihre Zustimmung geben? Würde so ein Test geheim bleiben? Was wäre, wenn der Test negativ wäre, aber es bekannt würde, daß er einen Vaterschaftstest machen ließ? Und überhaupt: Wollte er es wirklich so genau wissen?
    Als Frau Nejedly, die Sekretärin des Gemeindeamts, hereinkam, um zu sagen, daß Herr Schubirsch, der Betriebsrat der Glasfabrik, mit König sprechen wolle, sah sie, wie König nachdenklich, geradezu entrückt, einige Fotos mit den Bildseiten nach unten vor sich auflegte und plötzlich eines wie eine Spielkarte aufschlug. Ein Baby.
15.
    Die Kamera schwenkt über das Ufer des Braunsees, fixiert eine Uferstelle, geht näher, zeigt diese Stelle, knapp vor dem Wasser, in Großaufnahme. Die Erde ist aufgeschorft und zertrampelt.
    Das ist kein Abdruck von etwas, das hier vielleicht gelegen hat. Sieht aus, als hätte hier ein Kampf stattgefunden, das bedeutet
    Das bedeutet gar nichts.
    Das Wasser in der oberen Bildhälfte schaukelt sanft, glitzert, dadurch sieht es so aus, als würden die Abdrücke in der Erde davor vibrieren. Die Stimme aus dem Off:
    Athamas, Herrscher über Boiotien, sah eines Tages auf der Jagd einen weißen Hirsch. Er legte auf ihn an – Warum legte er auf ihn an? Warum staunte er nicht? Warum fragte er sich nicht, oh er seinen Augen trauen könne? Ein weißer Hirsch in seinen Jagdgründen war sein weißer Hirsch, warum wollte er ihn vernichten? Athamas legt an und trifft. So hat er seinen Sohn Learchos getötet. Flimmern.
    Mehr ist auf der Kassette nicht drauf? Fast Forward. Nein.
    Glauben Sie, daß die Geschichte stimmt?
    Die von dem König wie hieß er gleich?
    Nein, die Geschichte vom Bürgermeister. Ich meine, das könnte man doch als Hinweis
    Das könnte man höchstens als Hinweis nehmen, daß auch Roman die Gerüchte gehört hat. Aber wenn er wirklich von dem Hochsitz aus etwas gesehen hätte, dann hätte er das doch auch gefilmt, und nicht solche symbolistischen
    Vielleicht steht er unter Kunstzwang, vielleicht hat er Angst. Eine Kassette haben wir noch. Würden Sie sie bitte einlegen?
16.
    Er hatte weiter abgenommen in diesen Tagen, die er nur im Bett verbrachte, kaum etwas essend, keinen Alkohol trinkend, schlafend oder dösend, er sah wieder viel besser aus, straffer, elastischer, ausgeruht, aber das sah er nicht. Er sah nur, daß er wieder abgenommen hatte, er sah im Spiegel sein unrasiertes Gesicht, die fettigen Haare, die da wegstanden, dort angedrückt waren, er kratzte sich mit beiden Händen am Oberkörper, während er sein Spiegelbild anstarrte, er kratzte immer heftiger, warum juckte seine Haut so? Natürlich fand er gerötete Stellen, wo er gekratzt hatte.
    Er hatte sich duschen wollen, nach all den Tagen, die er, ohne sich einmal zu waschen, im Bett verbracht hatte. Nackt stand er da, starrte die Wanne an, die Armaturen, die Fliesen, das alles ist hier vor gar nicht langer Zeit erst eingebaut, ganz neu gemacht worden, in ein altes Bauernhaus neu eingebaut für den Komfort beim gesunden Leben auf dem Land – und nun erinnerten ihn die Fliesen, die verchromten Armaturen, die Tiegel und die Tuben, die da lagen, an ein Spital.
    Auf dem Haken an der Badezimmertür hing immer noch Richards Hausmantel aus braunem Samt. Er zog den Mantel an und betrachtete sich im Spiegel. Was er sah, war die Mischung aus der Faschingsausgabe eines Franziskanermönchs und dem Patienten eines Ostblock-Kurhotels auf dem Weg zur Schlammpackung. Er war nicht dumm und blind genug, um zu übersehen, daß er eine Karikatur abgab, sowohl von Weltentsagung als auch von Genesungssehnsucht. Warum hatte er sich nur den Finger und nicht gleich die Pulsadern aufgeschnitten? Der Schmerz, den er empfand, würde, davon war er überzeugt, bei zehn anderen zum Selbstmord reichen. Aber bei ihm wirkte er bloß fingiert, so als versuchte er, ihn sich vorzuspielen, um ihn erst empfinden zu können – und dann litt er viel mehr daran, wie unecht und unernst sein Schmerz sich zeigte, als daran, was er wirklich empfand.
    Er lief, immer noch in Richards braunem Samtmantel, zurück ins Schlafzimmer und legte sich wieder in das Bett. Er zog den Gürtel fest zusammen, so fest er konnte, als könnte er dadurch den flirrenden Schmerz in seinem Zwerchfell abwürgen.
17.
    Er lag mit
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