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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr
Autoren: Robert Menasse
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den Verkauf seiner Geräte bekommen könnte. Glaubte er wirklich, daß er sterben mußte, jetzt, bald, daß eine heimtückische Krankheit von ihm Besitz ergriffen hatte? Er glaubte es nicht im Ernst. Aber dennoch war dieser Gedanke nicht unernst, einfach weil er da war, immer wieder da war, der Gedanke an den Tod hatte sich in seinem Kopf festgesetzt. Weil er kein Leben mehr hatte, dachte er, und dieser Gedanke wütete und randalierte in ihm so brutal wie die schlimmste Krankheit. Sogar den Friedhof von Komprechts hatte er besucht, in einer betulich herbstlichen Endzeitstimmung, die ihm selbst dann sehr bald so sehr auf die Nerven gegangen war, daß er schnell wieder nach Hause gelaufen war, um minutenlang ganz laut Musik zu spielen, was er dann aber auch nicht ertragen hatte. Das Ärgste sind die Grabsteine gewesen, in die ein ovales emailliertes Bild des Verstorbenen eingearbeitet war, da starrten die Verstorbenen blaß und schemenhaft wie durch Gucklöcher durch die Steinmauer zwischen Tod und Leben auf die Voyeure. Danach hatte er seinen Koffer zu packen begonnen, er lag halbgepackt unter seinem Bett. Er mußte weg, das war, sagte er sich, ein Besuch, ein Heimaturlaub, Ferien, jetzt ist Herbst, und er konnte sich verabschieden, warum tat er es nicht? Er zerrte den Gürtel des Hausmantels fester. Wohin, was tun? Er hatte doch alles abgebrochen, beendet, aufgelöst, vielleicht hatte er gewußt, daß er – er stand vor der Zimmertür und dachte, daß er seine Stirn mit aller Gewalt gegen diese Tür stoßen wollte, nicht wollte, wie konnte man das wollen, müßte, nicht müßte, wer oder was kann einen dazu zwingen, nein, es war ein Impuls, nein, es war der Gedanke, daß da dieser Impuls war, also war gar nichts, er stand vor der Tür und schaute die Maserung des Holzes an. Daß er Pflege brauchte. Sterben mußte. Das war es vielleicht, warum er diesen Koffer unter dem Bett nicht hervorholen und fertigpacken konnte. Wenn er flüchtete, egal wohin, und dann stellte sich heraus, daß es keinen Neuanfang gab, weil es nur noch das Ende gab, und er würde Windeln brauchen und Schnabeltassen und – nein, das war unernst, auch wenn es ein Reflex auf einen wirklichen, tiefen Schmerz war, aber warum konnte er nicht – er hörte, wie seine Mutter an die Tür klopfte, ihn leise rief, er antwortete nicht, legte sich schnell in sein Bett. Nach einigen Minuten stand er wieder auf, das einzige, was er in den Tagen des dumpfen Brütens zur Perfektion gebracht hatte, war, daß er die Filzpantoffeln automatisch so vor dem Bett plazieren konnte, daß er, wenn er aufstand, sofort wieder genau hineinschlüpfte, ohne nach ihnen tasten oder sehen zu müssen. Es hatte etwas Artistisches, er sprang aus dem Bett und stand schon in den Pantoffeln, ohne einen Gedanken verschwenden zu müssen. Kein Gedanke verschwendet, aber auch zu keinem Gedanken fähig, warum war er nicht imstande, über sich nachzudenken, warum war er so dumpf im Kopf, er mußte endlich – was waren das für Stimmen vor dem Fenster? Er schaute, kettenrauchend, Schnaps trinkend, stand er am Fenster und schaute, da waren die Geometer, die zweitausend Quadratmeter um das Haus wurden vermessen, der eine Geometer, der ältere, schaute durch ein Gerät auf einem Stativ, der andere hielt eine Meßlatte, ein alter 2CV-Kombi fuhr vor, das war Ölzant, er lieferte einen Satz Grenzsteine, die Mutter lief aufgeregt da unten hin und her, wollte beim Ausladen helfen, aber die Steine waren zu schwer, sie überließ die Arbeit dem jüngeren Geometer und Ölzant. Ölzant hatte ein steifes Knie, war ein halber Invalide, aber er machte regelmäßig eine schwere Arbeit, die er gar nicht mehr machen mußte, und fuhr mit dem steifen Knie auch noch Auto. Der Schnaps machte Roman knieweich, er lehnte sich an das Fenster, drückte seine Stirn gegen das Fensterkreuz. Da lagen die Steine, und der ältere Geometer trug das Stativ aus Romans Gesichtskreis hinaus. Er erkannte an den Gesten seiner Mutter, daß sie Ölzant einlud, ins Haus zu kommen. Ölzant schüttelte den Kopf, aber seine Mutter insistierte, und schon kamen sie auf das Haus zu. Schnell lief Roman zur Zimmertür und sperrte ab. Kurz darauf wurde an seiner Tür geklopft, die Klinke heruntergedrückt, Romy, der Herr Ölzant ist da, der Herr Ölzant. Dann hörte er, wie seine Mutter sagte, daß er wohl schlafe, er sei krank. Roman zog den Gürtel seines Hausmantels fester, ging wieder an das Fenster. Vor dem Haus sah er den Geometer mit
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