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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer
Autoren: Ulrich Woelk
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hält. Wie ich schon sagte: Als Zauberer manipuliert man nicht die Materie, sondern die Erwartungshaltung des Publikums. Je nachdem, auf welchen Standpunkt man sich stellt, ist die Wirklichkeit mal so und mal so. Alles hat zwei Seiten, eine energetische und eine materielle. Man nennt das Welle-Teilchen Dualismus. Und jetzt frage ich Sie, Do: Ist das nicht zutiefst menschlich wie die Liebe? Ich sage nur Yin und Yang, Tag und Nacht, Dichtung und Wahrheit, männlich und weiblich. Überall Dualitäten. Mein Großvater war Avantgardist und hat nichts desto trotz etwas zutiefst Archaisches ausgegraben: den Welle-Teilchen-Dualismus. Ja, Donnerwetter, deutlicher geht’s ja nun wirklich nicht mehr! Die Frau ist die Welle und der Mann das Teilchen, das Geschoß.«
    |46| Do glaubte zu bemerken, daß Schrödinger sie verhexte. Sie hatte eine beängstigend plastische Vision: In dem aufsteigenden Rauchschleier vor dem Gesicht des Zauberers sah sie fließende körperhafte Linien. Sie sah Taillen und Schultern und Schenkel und Hüften, die einander berührten und durchdrangen und wieder und wieder und in immer neuer Weise zusammenfanden. Sie sah Yin-und-Yang-Verschlingungen, einen Tanz sinnlicher sexueller Möglichkeiten, bis Schrödinger das ganze Geschehen sanft fortblies.
    Später nahm sie an, daß sie zuviel getrunken hatte. Die sexuelle Symbolik ihrer Vision deutete sie als Folge eines bestimmten Mangels an Sinnlichkeit. Oliver und sie schafften es im Moment aus irgendeinem Grund nicht, miteinander zu schlafen. Aber ganz sicher, dachte sie, konnte sie in dem Punkt nicht sein. Schrödinger war ein Zauberer, ein Illusionist, und als solcher Herr über Schall und Rauch.
    Helma Kienapfel bat Schrödinger um eine Kostprobe seines Könnens. »Oder verstößt das gegen irgendwelche Regeln?«
    Schrödinger machte eine Handbewegung, als schraube er mit Bedacht eine Glühbirne in die Luft. »Zaubern   …«
    Do sagte: »Lassen Sie etwas verschwinden.«
    Er entgegnete: »Man muß sehr vorsichtig sein, einen Zauberer um etwas zu bitten. Würden Sie Ihren Ehering für einen Zaubertrick hergeben?«
    Sie stellte fest, daß sie außer ihrem Ehering keinen weiteren trug. Sie hätte schwören können, sich zu Hause noch einen Silberring mit Perlmutteinlage auf den Mittelfinger gesteckt zu haben. Schrödinger lächelte. Do dachte: Diese |47| süffisante Glattheit und das eitle Überlegenheitsgehabe von alten Männern! Wirklich, er verhexte sie: Sie hatte jetzt den Eindruck, daß er doch nicht auf die sechzig zuging, sondern allenfalls Anfang fünfzig war. Um wenigstens sicher davon ausgehen zu können, betrunken zu sein, leerte sie schnell ihr Weinglas.
    Schrödinger wandte sich an Helma: »Es tut mir leid, aber es ist vollkommen unmöglich, en passant eine kleine Zauberei, wie Sie es nennen, zu präsentieren. Mir ist bewußt, daß das Zaubern im allgemeinen dem Unterhaltungsfach zugerechnet wird, aber dem muß ich entschieden widersprechen. Die Magie ist kein Mittel zur Zerstreuung, sondern eine dem Komponieren oder der Malerei vergleichbare
Kunst
. Wie ein großes Kunstwerk, eine Sinfonie oder ein Gemälde, soll auch ein Zauber in uns vielfältige Emotionen wecken. Kunst soll uns nicht von der Realität ablenken, sondern geradewegs in sie hineinführen, in ihren Kern, der mehr ist als platte Kausalität und die Tyrannei des Determinismus. Picasso hat gesagt, die Kunst sei eine Lüge, damit wir die Wahrheit besser erkennen können. Voilà – nichts anderes ist Zauberei! Gewiß: Es
unterhält
uns, wenn wir eine Sinfonie hören oder in einer Ausstellung von Meisterwerk zu Meisterwerk schlendern, aber für die Schöpfer solcher Kunstwerke ist dieser Effekt, der auf ein schnelleres Verfliegen der Zeit für das Publikum, auf eine Zeitbeschleunigung abzielt, ganz und gar unbedeutend. Es ist ein Nebeneffekt, eine nicht zu verachtende, aber auch nicht überzubewertende Wirkung der Musik, der Kunst – und also auch des Zauberns. Doch in einem Punkt – und das möchte ich |48| Ihnen mit all dem vor Augen führen – in einem ganz und gar zentralen Punkt unterscheidet sich das Zaubern als Kunst vom Malen oder Komponieren: Wenn Sie nämlich einen Maler bitten, spontan und zur Unterhaltung einer gepflegten Abendgesellschaft ein Bild zu malen, so kann er das im Grunde tun und wird es vielleicht auch, je nachdem wie er aufgelegt ist. Oder ein Komponist könnte sich ans Klavier setzen und auf den Wunsch seiner Freunde hin ein Stück improvisieren – er
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