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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer
Autoren: Ulrich Woelk
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Tulpen gleichsam in Flammen gestanden. Jetzt legte sich dämmriges ungreifbares Zwielicht über die Tischgesellschaft, und alle schwiegen unter dem Eindruck der schnellen Wandlung.
    Da niemand etwas sagte, fuhr der Magier fort: »Materie – das ist es, was die Schrödinger-Gleichung zum Ausdruck bringt – ist eine
Verdichtung von Möglichkeiten
. Man kann es so sagen: Alles ist möglich, aber nicht alles verdichtet sich auch. Ich gebe zu, das ist schwer zu verstehen. – Do, |43| halten Sie es für
möglich
, daß Ihre Urururgroßmutter im Nebenraum ist?«
    Der Gedankensprung verwirrte sie. »Nein, das ist nicht möglich.«
    »Sind sie sich sicher? Ich sage:
Es ist möglich

    »Das ist es nicht.«
    »Beweisen Sie mir das.«
    »Aber   … ich bräuchte doch nur nachzusehen.«
    »Ich sage: Nun gut, wenn Sie die Tür öffnen, wird Ihre Urururgroßmutter sich auflösen, weil sie von Ihnen nicht gesehen werden möchte.«
    »Aber das ist doch grotesk.«
    »Warum? Die Wahrheit ist, daß Sie mir nicht beweisen können, daß sie
nicht
da war.«
    Mark löste das Problem nach Sparkassenart. Er sagte: »Nun, wir könnten eine Videoüberwachung installieren.«
    »Dann wird Dos Urururgroßmutter sich einen anderen Raum für ihre Auferstehung suchen.«
    »Den können wir ja auch überwachen.«
    »Ja, Mark. Aber Sie können nicht das
ganze Universum
überwachen. Das ist der Witz: Irgendwo bleibt immer ein Schlupfloch.« Und danach überraschte er alle am Tisch mit dem Folgenden: »Erwin Schrödinger, der übrigens 1933 den Nobelpreis für Physik bekommen hat – ist mein Großvater, beziehungsweise er war es. Leider habe ich ihn nie kennengelernt. Mein Großvater, müssen Sie wissen, war nicht nur ein physikalisches Genie, sondern auch ein erfolgreicher Schürzenjäger. Er liebte das Theater und die Literatur. Stellen Sie sich vor, er verfaßte und übersetzte Gedichte! Heutzutage undenkbar. Das Kulturleben hat |44| die Naturwissenschaften abgehakt. Aber Erwin Schrödinger war ein echter Bohemien und hatte immer eine Reihe von Freundinnen. Ich finde, das wirft ein anderes Licht auf seine Theorie. – Entschuldigung, darf ich rauchen? Ich weiß, es ist ein atavistisches Laster, aber es gelingt mir einfach nicht, es mir abzugewöhnen.«
    »Können Sie es denn sich nicht
abzaubern
?«, sagte Oliver.
    Helma stellte einen Aschenbecher vor Schrödinger hin, was praktisch einer Unterwerfungsgeste gleichkam. Sie hatte das Rauchen »vor einer Ewigkeit« aufgegeben, wie sie zu betonen pflegte. Und sie wurde nicht müde, Tabakkonsum auf eine Stufe mit Umweltskandalen und technischen Desastern zu stellen, als sei jede in geschlossenen Räumen gerauchte Zigarette eine Art vorsätzliches Wohnzimmer-Tschernobyl.
    Zwischen Schrödingers Fingern tauchte wie aus dem Nichts ein Zigarillo auf. »Leider nein«, sagte er. »Man kann sich nicht selbst verzaubern, das ist ein magisches Grundprinzip. Wenn es im Märchen heißt, daß jemand sich unsichtbar macht oder sich in ein wildes Tier oder einen Prinzen verwandelt, dann verzaubert er in Wirklichkeit nicht sich selbst, sondern den Blick der anderen dahingehend, in ihm ein wildes Tier oder einen Prinzen zu sehen. Und das heißt, Oliver, ich könnte vielleicht erreichen, daß alle am Tisch in mir einen Nichtraucher
sehen
– das würde meiner Lunge aber wenig nützen.« Beim Anzünden des Zigarillos schienen bis auf das Feuerzeugflämmchen alle Lichter im Raum zu verlöschen, so daß nur noch sein goldbeleuchtetes Gesicht zu erkennen war. »Als mein Großvater |45| ein Jahr nach seiner Habilitation zum Militär eingezogen und an die italienische Front geschickt wurde«, fuhr er rauchend fort, »verließ meine Großmutter Wien, ging zurück nach Deutschland, und lernte dort einen Brauereibesitzer kennen, der bereit war, sie trotz ihrer unehelichen Tochter – meiner Mutter – zu heiraten. Erwin Schrödinger ist 1962 gestorben, und erst danach hat mir meine Mutter gesagt, daß er ihr Vater und also mein Großvater war. Meine Großmutter hat nie versucht, ihn zur Anerkennung der Vaterschaft zu zwingen. Offiziell hat Schrödinger nur eine Tochter, ebenfalls unehelich übrigens. Zu Beginn meiner Karriere habe ich mir den Namen Schrödinger wieder zugelegt, denn ich sehe es so: Was ich fortsetze, ist das Werk meines Großvaters, der bewiesen hat, daß die Realität eine Verdichtung von Möglichkeiten ist. Und nichts anderes ist die Zauberei. Man sieht, was man zu sehen
erwartet
, was man für möglich
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