Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schrei der Nachtigall

Schrei der Nachtigall

Titel: Schrei der Nachtigall
Autoren: Andreas Franz
Vom Netzwerk:
getroffen, und ich bin sicher, sie hätten eines Tages auch geheiratet und … Nun, das Schicksal hatte etwas anderes mit ihnen vor«, sagte sie mit traurigem Blick.
    »Was sagen die Ärzte über ihren Zustand?«
    »Was sollen die schon sagen? Die sind genauso hilfloswie ich. Es kann sein, dass sie irgendwann wieder aufwacht, es kann aber auch sein, dass sie noch Jahre im Koma bleibt, bis sie stirbt. Bei Wachkomapatienten ist alles möglich, sie kann heute oder morgen plötzlich wieder da sein – oder eben nie.« Sie machte eine kurze Pause, während der sie ihre Gedanken sortierte und wieder versonnen lächelte, als würde sie ihre Tochter vor sich sehen und stumm mit ihr kommunizieren. Schließlich fuhr sie fort: »Sie hätten sie kennenlernen sollen, sie ist so hübsch, und sie war bis zu dem Unfall so lebenslustig, auch wenn mein Mann ihr das Leben manchmal sehr schwer gemacht hat. Aber sie hat das weggesteckt, einfach so. Erst diese Tragödie hat sie gebremst.«
    »Wie war das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Mann?«
    Liane Wrotzeck sah kurz von Brandt zu Eberl, verzog leicht den Mund und erklärte: »Wir waren verheiratet.«
    »Damit haben Sie aber meine Frage nicht beantwortet. War Ihre Ehe glücklich?«
    »Es gibt sicher glücklichere Ehen«, entgegnete sie lapidar. »Aber was hat das mit dem Tod meines Mannes zu tun?«
    »Wir wollen uns ein Bild machen, um dann zu entscheiden, ob wir weiterermitteln oder nicht. Haben Sie außer Allegra noch weitere Kinder?«, fragte Brandt, der merkte, dass dies nicht der passende Moment war, über die Eheverhältnisse der Wrotzecks zu sprechen. Er würde ohnehin keine zufriedenstellende Antwort erhalten. Aber irgendwann würde er es erfahren, vorausgesetzt, es gab einen Grund, dies weiter zu hinterfragen. Außerdem konnte ersich schon denken, dass diese Ehe alles andere als glücklich gewesen war, sonst hätte Liane Wrotzeck nicht so ausweichend geantwortet. Wäre sie glücklich gewesen, hätte sie ihn entrüstet angeschaut und geschnaubt, was er sich erlaube, natürlich habe sie ihren Mann über alles geliebt, und er sie. Doch nichts von dem hatte sie gesagt, nur »es gibt sicher glücklichere Ehen«.
    »Ja, Thomas.«
    »Können wir mit ihm sprechen?«
    »Natürlich, aber er wird Ihnen auch nicht viel weiterhelfen können. Warten Sie, ich schau nach, ob er schon wach ist. Er war letzte Nacht mit Freunden unterwegs und ist erst heute morgen nach Hause gekommen.« Sie verließ das Zimmer und ging die Treppe nach oben.
    Nachdem Liane Wrotzeck außer Hörweite war, sagte Eberl leise: »Ich glaube, wir werden diesem anonymen Hinweis doch nachgehen müssen. Oder was meinst du?«
    »Mal sehen«, antwortete Brandt nur, während er sich im Zimmer umblickte und ein Foto entdeckte, das die ganze Familie zeigte. Ein Foto, das aussah, als wäre es vor hundert oder mehr Jahren gemacht worden, und doch ein Foto aus der jüngeren Vergangenheit. Er nahm es in die Hand und sah einen Bären von einem Mann neben seiner Frau stehen, neben ihr ein bildhübsches Mädchen mit langen dunkelbraunen Haaren und grünen Augen, die seltsam melancholisch wirkten – Allegra, die jetzt im Krankenhaus lag. Und neben dem Vater stand ein junger Mann, der äußerlich sehr viel Ähnlichkeit mit diesem zeigte. Er war fast so groß und breitschultrig, lediglich sein Gesichtsausdruck war nicht so verkniffen. Brandt war gespannt auf ihn.
    »Das ist die Familienidylle schlechthin«, sagte Brandt sarkastisch. »Wie Fotos doch lügen können.«
    »Das Mädchen passt da irgendwie nicht rein«, bemerkte Eberl im Flüsterton.
    »Nach den bisherigen Schilderungen passt der Vater nicht rein. Ich stell mir nur vor, wie das war, wenn der zugelangt hat. Der war doch mindestens einsneunzig groß und hundertzehn bis hundertzwanzig Kilo schwer.«
    »Meinst du, er hat’s getan? Ich meine, hat er zugelangt?«
    »Keine Ahnung, ich hoffe nicht«, entgegnete Brandt nur und stellte das Foto wieder zurück auf seinen ursprünglichen Platz. »Sieht gar nicht aus wie in einem Bauernhaus«, bemerkte er.
    »Hast wohl zu viele alte Heimatfilme gesehen. Das ist ein hochmoderner Wirtschaftsbetrieb, und die Dame des Hauses läuft auch nicht mit Kopftuch, Schürze und Gummistiefeln rum.«
    »Hab’s mir trotzdem anders vorgestellt. Und deine Meinung zu ihr?«
    »Verschlossen, zurückhaltend. Aber was will das schon heißen? Außerdem darf man nicht vergessen, was sie in …«
    Liane Wrotzeck stand plötzlich wieder im Wohnzimmer, ohne
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher