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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen
Autoren: Jess Walter
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das Vertrauen, das seine Mutter in ihn zeigte (Dadurch ändert sich nichts für dich), an dem Abend, als er erfuhr, wer sein Vater war, an dem Abend, als er ihr verzieh und dankte, und er stürzt sich wieder in die Arbeit: Er beizt ab, er schleift, er streicht, beizt ab, schleift, streicht, als hinge sein Leben davon ab, und so ist es natürlich auch. Und an jedem dunklen Morgen, wenn er aufsteht, herrscht wieder Klarheit und Entschlossenheit in ihm, und wenn ihm etwas fehlt, dann ist es –
    Dee Moray, die mit übergeschlagenen Beinen auf der Rückbank eines Wassertaxis sitzt und sich von der Sonne die Arme wärmen lässt, als das Boot der rauen Küste der Riviera di Levante folgt. Sie trägt ein cremefarbenes Kleid, und bei stärkeren Windböen drückt sie den dazu passenden Hut auf den Kopf. Bei diesem Anblick krümmt sich Pasquale Tursi, der trotz der Hitze wie üblich eine Anzugjacke trägt (schließlich haben sie für den Abend einen Tisch in einem Restaurant reserviert), beinahe vor nostalgischer Sehnsucht. Der wehmütig fantastische Gedanke streift ihn, dass er nicht die fünfzig Jahre alte Erinnerung an den Augenblick heraufbeschworen hat, in dem er sie zum ersten Mal gesehen hat, sondern diesen selbst. Wenn ein Augenblick ohnehin nur in der eigenen Wahrnehmung existiert, dann ist der Ansturm der Ge fühle, den Pasquale gerade erlebt, vielleicht der AUGENBLICK selbst und nicht nur sein Schatten. Vielleicht geschehen alle Augenblicke gleichzeitig, und sie werden immer zwanzig sein und das ganze Leben noch vor sich haben. Dee bemerkt seine Versunkenheit und berührt ihn am Arm: »Cosa c’è?« Dank ihrer jahrelangen Tätigkeit als Italienischlehrerin können sie sich zwar gut verständigen, doch was er fühlt, lässt sich einmal mehr nicht mit Worten ausdrücken, also schweigt Pasquale und lächelt ihr zu, ehe er sich erhebt und nach vorn zum Bug geht. Er zeigt dem Fahrer die Stelle, der ein zweifelndes Gesicht macht, aber trotzdem um einen Felsausläufer in die einsame Bucht steuert, von deren einzigem Pier nur noch einige zerbröckelte Fragmente zu sehen sind, die wie Knochenhaufen aus dem Meer ragen und die einzigen Überreste eines Dorfs darstellen, das einst in einer Klippenfalte klebte. Pasquale erzählt Dee, wie er das Hotel zur ausreichenden Aussicht schloss, wie der letzte Fischer 1973 starb, wie das aufgegebene alte Dorf in den National park Cinque Terre integriert wurde und die Familien beschei dene Abfindungen für ihre kleinen Grundstücke erhielten. Beim Abendessen auf einer Veranda mit Seeblick in Portovenere erklärt Pasquale auch andere Dinge: den sanften Sog der Ereignisse, nachdem er sie an jenem Tag im Hotel zurückgelassen hatte, den süßen, zufriedenen Rhythmus seines Lebens ab diesem Zeitpunkt. Nein, es ist nicht die fremde Aufregung seines imaginierten Lebens mit ihr; stattdessen führt Pasquale ein Leben, das sich wie seines anfühlt. Er heiratet die schöne Amedea, und sie ist ihm eine wunderbare Frau, verspielt und aufmerksam, die beste Freundin, die er sich wünschen kann. Zusammen ziehen sie den kleinen Bruno auf und bald darauf die Töchter Francesca und Anna, Pasquale tritt eine gute Stelle in der Firma seines Stiefvaters an und verwaltet und renoviert Wohnhäuser, ehe er ihn schließlich als Patriarch der Familie und des Unternehmens Montelupo ablöst, der einem Heer von Nichten und Neffen Arbeit, Erbe und Rat zuteil werden lässt und sich nie hätte träumen lassen, dass sich ein Mann so gebraucht und erfüllt fühlen kann. Es ist ein Leben, dem es nicht an bestechenden Momenten fehlt, ein Leben, das Fahrt aufnimmt wie ein bergab rollender Felsbrocken, leicht, natürlich, angenehm und doch irgendwie außer Kontrolle; alles geht so schnell, du wachst als junger Mann auf, beim Mittagessen bist du in mittleren Jahren, und am Abend rückt schon der Tod heran. Und du warst glücklich , fragt Dee, und er antwortet, ohne zu zögern: O ja , dann denkt er nach und fügt hinzu: Natürlich nicht immer, aber mehr als die meisten Menschen, glaube ich. Er liebte seine Frau, und auch wenn er manchmal von einem anderen Leben und anderen Frauen träumte – meistens von Dee –, bezweifelt er keine Sekunde, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Am meisten bedauert er, dass sie nach dem Erwachsenwerden der Kinder nicht mehr zum Reisen kamen, weil Amedea krank und launisch wurde – Wutausbrüche und gelegentliche Verwirrtheit, die als erste Anzeichen von Alzheimer diagnostiziert
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