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Schöne neue Welt

Schöne neue Welt

Titel: Schöne neue Welt
Autoren: Aldous Huxley
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erzeugt, die mit vier Jahren geschlechtsreif und mit sechseinhalb voll erwachsen waren. Ein Triumph der Wissenschaft. Aber für die Gesellschaft wertlos. Sechs Jahre alte Erwachsene waren sogar für die Obliegenheiten eines Epsilons zu dumm. Bei diesem Verfahren erhielt man immer alles oder nichts. Entweder änderte sich gar nichts, oder es änderte sich alles. So versuchte man noch immer, den idealen Kompromiß zwischen zwanzig- und sechsjährigen Erwachsenen zu erzielen. Bishe r ohne Erfolg. Seufzend schüttelte Päppler den Kopf. Der Rundgang durch die purpurne Dämmerung führte sie in die Nähe von Meter 170 des Regals 9. Von hier an war Regal 9 verschalt, die Flaschen legten den Rest der Reise in einer Art Tunnel zurück, der hier und da von zwei bis drei Meter breiten Öffnungen unterbrochen war.
    »Wärmegewöhnung«, erklärte Päppler.
    Hitzetunnel wechselten mit Kältetunneln ab. Kälte war gekoppelt mit Unbehagen, das durch starke Röntgenstrahlen verursacht wurde. Wenn die Embryos entkorkt wurden, war ihnen das Grauen vor Kälte bereits eingefleischt. Sie waren prädestiniert, in die Tropen auszuwandern, Bergarbeiter, Azetatseidenspinner oder Stahlarbeiter zu werden. Später wurde ihr Verstand dazu gezwungen, dem Instinkt ihres Körpers zu folgen. »Wir normen sie darauf, daß es ihnen bei Hitze gutgeht«, schloß Päppler. »Die Kollegen im Stockwerk über uns bringen ihnen die Liebe zu ihr bei.«
    »Und darin«, warf der Direktor salbungsvoll ein, »liegt das Geheimnis von Glück und Tugend: Tue gern, was du tun mußt! Unser ganzes Normungsverfahren verfolgt dieses Ziel: die Menschen lehren, ihre unumstößliche soziale Bestimmung zu lieben.«An einer Lücke zwischen zwei Tunneln stand eine Pflegerin und stach behutsam mit einer langen dünnen Spritze in den gallertigen Inhalt einer vorbeiziehenden Flasche.
    Die Studenten und ihre beiden Führer blieben ein paar Augenblicke stumm beobachtend stehen.
    »Nun, Lenina«, sagte Päppler, als sie endlich die Spritze herauszog und sich aufrichtete.
    Das Mädchen fuhr herum. Trotz Lupus und purpurnen Augen war sie auffallend hübsch.
    »Henry!« Ein Lächeln blinkte rot auf, eine Reihe Korallenzähne.
    »Entzückend, ganz entzückend«, murmelte der Direktor, gab ihr zwei, drei kleine Klapse und erhielt ein etwas unterwürfiges Lächeln.
    »Was verabreichen Sie denn da?« fragte Päppler, bemüht, einen möglichst sachlichen Ton anzuschlagen.
    »Ach, gegen Typhus und Schlafkrankheit, wie gewöhnlich.«
    »Künftige Tropenarbeiter werden schon von ein Meter einhundertfünfzig an geimpft«, belehrte Päppler die Studenten. »Die Embryos haben noch Kiemen. Wir machen den Fisch immun gegen die Krankheiten des späteren Menschen.« Dann wandte er sich an Lenina: »Heute nachmittag, zehn vor fünf, auf dem Dach«, sagte er. »Wie gewöhnlich.«
    »Entzückend«, wiederholte der Direktor noch einmal und folgte, nach einem letzten Klaps, den anderen.
    Auf Regal 10 wurden ganze Reihen künftiger Chemiearbeiter an die Einwirkungen von Blei, Ätznatron, Teer und Chlor gewöhnt. Der erste Schub einer Lieferung von zweihundertfünfzig Raketeningenieuren in embryonalem Zustand passierte soeben Meter 1100 auf Regal 3. Eine besondere Vorrichtung bewirkte, daß ihre Behälter ständig kreisten. »Zur Stärkung des Gleichgewichtssinns«, bemerkte Päppler. »Reparaturen an der Außenseite einer Rakete in der Luft sind eine kitzlige Aufgabe. Wir verlangsamen, wenn die Embryos aufrecht stehen, den Kreislauf des Blutsurrogats, bis sie halb verhungert sind, und beschleunigen ihn, wenn sie auf dem Kopf stehen. Sie gewöhnen sich also daran, Kopfstehen mit Wohlbehagen zu assoziieren. Ja, sie sind nur dann wirklich glücklich, wenn sie auf dem Kopf stehen können.«
    »Und nun«, fuhr Päppler fort, »möchte ich Ihnen einige interessante Einzelheiten bei der Normung von alpha-plus Intellektuellen zeigen. Wir haben eine große Lieferung auf Regal fünf. Erste Galerie!« rief er zwei Studenten zu, die ins Parterre hinuntersteigen wollten.
    »Sie befinden sich etwa bei Meter neunhundert«, erklärte er. »Die Normung Intellektueller kann mit Erfolg erst dann begonnen werden, wenn die Fetusse ihre Schwänze verloren haben. Folgen Sie mir!«
    Aber der Direktor sah auf die Uhr. »Zehn vor drei«, sagte er. »Keine Zeit mehr für die intellektuellen Embryos, fürchte ich. Wir müssen in die Pflegesäle hinauf, bevor die Kinder aus ihrem Nachmittagsschläfchen erwachen.«
    Päppler war
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