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Schöne neue Welt

Schöne neue Welt

Titel: Schöne neue Welt
Autoren: Aldous Huxley
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Mädchen stand da und lächelte ihm zu, ein unsicheres, beschwörendes, fast unterwürfiges Lächeln. Die Sekunden verrannen. Ihre Lippen bewegten sich, sie sagte etwas, aber ihre Worte gingen unter in dem lauten Kehrreim der Ausflügler: »Raus-mit-der-Geißel! Raus-mit-der-Geißel!«
    Das Mädchen drückte die Hände auf ihre linke Brust, und auf ihrem pfirsichgleichen, puppenschönen Gesicht erschien ein schlecht dazu passender Ausdruck sehnsüchtigen Kummers. Ihre blauen Augen schienen größer, strahlender zu werden, und plötzlich rollten zwei Tränen über ihre Wangen. Sie sagte noch einige unhörbare Worte, dann streckte sie dem Wilden mit einer jähen, leidenschaftlichen Geste die Arme entgegen und trat auf ihn zu.
    »Raus-mit-der-Geißel! Raus-mit-«
    Und plötzlich bekamen sie, was sie gewollt hatten.
    »Metze!« Wie ein Rasender stürzte sich der Wilde auf sie.
    »Aas!« Wie ein Rasender schlug er mit seiner geknoteten Geißel auf sie ein.
    Entsetzt wandte sie sich zur Flucht, stolperte und fiel ins Heidekraut. »Henry, Henry!« schrie sie. Aber ihr rotwangiger Begleiter hatte sich hinter dem Helikopter in Sicherheit gebracht.
    Mit einem Aufschrei ekstatischen Entzückens riß der Kreis; alle stürzten in wildem Durcheinander zum magischen Anziehungspunkt. Schmerz war ein fesselnder Greuel.
    »Krümm, Unzucht, dich!« Toll hieb der Wilde von neuem ein.
    Gierig versammelten sie sich um ihn, stießen und drängten wie Schweine am Trog.
    »Oh, das Fleisch!« Der Wilde knirschte mit den Zähnen.
    Diesmal fiel die Geißel auf seine eigenen Schultern.
    »Schlag es tot, schlag es tot!«
    Angelockt vom fesselnden Greuel des Schmerzes und getrieben von ihrer Gewohnheit, kollektiv zu handeln, von ihrem Wunsch nach Einmütigkeit und Eintracht, so unausrottbar ihnen während ihrer ganzen Normung eingepflanzt, begannen sie seine wahnwitzigen Gebärden nachzuahmen, hieben aufeinander los, so wie der Wilde gegen sein eigenes aufrührerisches Fleisch oder gegen die mollige, fleischgewordene Schändlichkeit wütete, die sich da zu seinen Füßen im Heidekraut wand.
    »Schlag es tot, schlag es tot«, schrie der Wilde weiter.
    Und plötzlich begann jemand zu singen. »Rutschi-putschi!« Im nächsten Augenblick hatten schon alle den Kehrreim aufgegriffen, sangen und begannen zu tanzen. Rutschiputschi, herum, rundherum, im Dreivierteltakt aufeinander losdreschend. Rutschiputschi...
    Erst nach Mitternacht entfernte sich der letzte Hubschrauber. Vom Soma betäubt, erschöpft von einer langen Raserei der Sinnlichkeit, lag der Wilde im Heidekraut und schlief. Die Sonne stand schon hoch, als er erwachte. Ein Weilchen lag er da und blinzelte eulenhaft verständnislos ins Licht. Dann erinnerte er sich plötzlich - an alles.
    »O Gott, o mein Gott!« Er schlug die Hände vors Gesicht.
    An diesem Abend erschien, gleich einer dunklen Wolke, ein summender Flugzeugschwarm, zehn Kilometer lang, über der Heide. Ein Bericht über die Bußorgie der letzten Nacht hatte in allen Zeitungen gestanden.
    »Wilder!« riefen die ersten Ankömmlinge beim Aussteigen. »Herr Wilder!«
    Keine Antwort.
    Die Tür des Leuchtturms war angelehnt. Sie stießen sie auf und traten in das Dämmerlicht geschlossener Fensterläden. Hinter dem Türbogen am anderen Ende des Raumes erblickte man den Treppenaufgang, der in die oberen Stockwerke führte. Genau unter dem Scheitel des Bogens baumelte ein Paar Füße.
    »Herr Wilder!«
    Langsam, ganz langsam, wie zwei bedächtige Kompaßnadeln, drehten sich die Füße nach rechts: Nord, Nordost, Ost, Südost, Süd, Südwest. Dann hielten sie inne und drehten sich, ein paar Augenblicke später, ebenso bedächtig nach links: Südwest, Süd, Südost, Ost...
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