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Schön scheußlich

Schön scheußlich

Titel: Schön scheußlich
Autoren: Natalie Angier
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seine Unsicherheit ungehobelt und aggressiv aus. Er war ein kleiner, nicht sehr gut aussehender Mann, sein Gesicht eine Mischung aus Bulldogge und Porzellanpüppchen, und ich gehe jede Wette ein, dass es härter ist, ein hausbackener Schwuler zu sein als eine unattraktive Frau. Sein Witz war ätzend, seine Fantasie grenzenlos, und er strengte sich sehr an, seinen Nächsten ein guter Gastgeber zu sein. Dennoch hatte er wenige enge Freunde, und diejenigen, die er hatte, wussten um seine Fehler, um sein unmögliches, unvergleichliches Wesen. Sogar bei seiner Trauerfeier wurde der Pastor, der Rod gut gekannt hatte, von einem Anfall von Begräbniswahrheiten gepackt und fand mindestens ebenso viele Worte für Rods Unarten wie für seine Tugenden.
    Rod hatte es geschafft, ein schweres Problem niederzuringen: Er war Alkoholiker gewesen. Einen großen Teil seines Erwachsenenlebens hatte er als zügelloser Säufer zugebracht. Doch dann schloss er sich den Anonymen Alkoholikern an und blieb für die letzten acht Jahre seines Lebens nüchtern. Manchmal glaube ich, dass er das Gefühl hatte, zwischen Nüchternheit und Selbstbewusstsein wählen zu müssen. Kurz nachdem er mit dem Trinken aufgehört hatte, zeigten sich bei ihm die ersten Anzeichen für eine mögliche HIV-Infektion: Er erkrankte an Gürtelrose. Doch obwohl wir alle ihn drängten, sich auf das Virus testen zu lassen, lehnte er jedwede Diskussion über dieses Thema ab. Vielleicht wäre ein positives Ergebnis für ihn mit einem nicht von Schnaps umnebelten Kopf unerträglich gewesen. Vielleicht versuchte er ab einem gewissen Punkt auch, andere zu schützen, wusste er doch zu gut, dass er im betrunkenen Zustand sehr viel leichter versucht wäre, unter die Leute zu gehen und das Virus zu verbreiten. Oder vielleicht wurde ihm auch in einem Augenblick reinster Panik hin und wieder klar, dass Aids viel, viel größer war als er - als sein Wille, sein Witz oder seine Vorstellungskraft. Aids ist größer als alles, was wir je erlebt haben. In seiner Ansteckungsgefährlichkeit, in seiner Unbarmherzigkeit, in der Art und Weise, wie es sich ausgerechnet unserer Künstler und Dissidenten, unserer Quellen des Kreativen und erfrischend Neuen, bemächtigt und sie ihrer Kraft beraubt, ist Aids eine der bösartigsten Krankheiten, der die Menschheit je begegnet ist.
    Ein Teil ihrer Hässlichkeit verdankt die Krankheit der Methode des Virus, das heißt der Unaufhaltsamkeit, mit der es den Körper zugrunde richtet. Das Virus funktioniert so gut, weil es gelernt hat, was keine Mikrobe des Menschen in solcher Perfektion beherrscht: Es unterhöhlt systematisch die gegen ihn gerichtete Verteidigung seines Wirts. Das Virus infiziert und tötet T-Helferzellen, die Generäle der gesamten Immun-Armee, und die Zahl eben dieser T4-Zellen ist es, die als stellvertretendes Omen für die eigenen Zukunftsaussichten gelten kann. Das Virus tötet Killer-T-Zellen und Makrophagen. Es hängt mit Haut und Haaren vom Zytokinnetzwerk des Körpers ab, jenen Signalmolekülen, die es den Immunzellen ermöglichen, miteinander zu kommunizieren. HIV mutiert unablässig: In dem Augenblick, wenn sein Anblick den Antikörpern, die es auszuschalten versuchen, anfängt, vertraut zu werden, legt es eine neue Proteinmaske an und entkommt ungesehen. Selbst wenn es latent vorhanden zu ruhen scheint, wenn Sie von ihm keine Spur im Blut entdecken können, ist es still und leise dabei, das Immunsystem durcheinander zu bringen. Über Jahre hinweg verbreitet es sich in den Lymphknoten, wo es aus dem Hinterhalt T-Zellen überfällt, die dort auf ihrer Reise durch den Körper unweigerlich vorbeikommen.
    Indem es das Immunsystem zerstört, vernichtet das Virus die Festung des Ichs. Immunzellen manifestieren die Grenze zwischen dem Ich und den anderen. Sie unterscheiden zwischen Fleisch vom eigenen Fleische und unrechtmäßigen Eindringlingen, Blutsaugern und Dieben. Wenn es kein Immunsystem gibt, stehen die Tore weit offen und erlauben es allem und jedem, das Allerheiligste zu stürmen. Sekundärinfektionen, die normalerweise wie lästige Mücken abgewehrt werden, schlagen ihr Lager auf, und ihre Erreger vermehren sich zu erdrückenden Heerscharen an Pilzen, Bakterien, Viren, Protozoen, Hefen. Aids ruft uns mehr als jede andere Krankheit ins Gedächtnis, dass wir aus organischer Materie bestehen, dass wir eine reichhaltige natürliche Ressource sind, eine willkommene Mahlzeit für die unsichtbaren Massen. Normalerweise beginnt die
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